Neue Routinen entwickeln Wie Senioren mit der Corona-Krise umgehen
In der Corona-Krise gelten Alte und Vorerkrankte als Risikogruppe. Vor allem in Pflegeheimen werden sie nun besonders isoliert und dürfen nur in Ausnahmesituationen raus. Doch was macht das mit den Menschen? Ein Senior erzählt.
Leutkirch (dpa) - Einsam fühlt sich Siegfried Jehmlich in Zeiten der Corona-Krise nicht. Der 81-Jährige hat früher Orgeln auf der ganzen Welt gebaut. Heute lebt er in einem Seniorenzentrum in Leutkirch im Allgäu - nah an der bayerischen Grenze.
Ein bisschen Unterwegssein von früher hat er sich trotz Pandemie erhalten. Mit Spaziergängen zum Beispiel oder mit Streifzügen durch die Literatur. Auch wenn die Demenz ihn manchmal das ein oder andere vergessen lässt.
Neue Routinen finden
Vergessen lässt sich die aktuelle Situation nur schwer. Gerade an Ostern, wo sonst die Familie vorbeigeschaut hätte, blieb in diesem Jahr nur das Telefon. Der gebürtige Dresdner nimmt die Situation so, wie sie ist. "Man kann es sowieso nicht ändern", betont er immer wieder. Und so hat es sich Jehmlich auf seinem Balkon gemütlich gemacht. Mal mit einer Zeitung, mal mit einer Zigarette. Langweilig sei ihm nicht. "Also ich muss noch keine Däumchen drehen", sagt er.
Bingo-Nachmittage oder abendliche Treffen in den acht Wohngruppen sind erstmal passé. Stattdessen gibt es neue Routinen. Die Abendnachrichten zum Beispiel seien ein fester Bestandteil, sagt Jehmlich. Sorgen mache er sich angesichts der Schlagzeilen und Meldungen rund um die Krise eher nicht. Er rede auch mit den anderen Bewohnern selten über Corona. Ihm sei es erstmal wichtig, sich zu informieren.
Die aktuell geltenden Ausgangsbeschränkungen hält er für gut und wichtig. Auch mit den Sperren für Pflegeheime komme er klar. Nur die Aussicht auf ein Ende dieser ganzen Einschränkungen, die wäre schon schön, sagt der pensionierte Orgelbauer.
Kontakte per Videotelefonie
Ein bisschen mehr Perspektive für Ältere wünscht sich auch Andreas Kruse, Direktor des Instituts für Gerontologie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Kruse befürchtet, dass sich die Alten bei einer längeren Isolation vergessen fühlen könnten. Und dieses Gefühl begünstige das Auftreten von Depressionen und Angstzuständen. Wichtig sei es, den Menschen Kontakte zu ermöglichen etwa durch Videotelefonie. "Zudem müssen sie ausführlich aufgeklärt werden, warum solche Maßnahmen dringend notwendig sind", sagt Kruse.
Erst vergangenen Woche hatte die Landesregierung den Ausgang für Bewohner von Pflegeeinrichtungen in Baden-Württemberg auf notwendige Arztbesuche und Behandlungen beschränkt. Spaziergänge, Einkäufe oder sonstige Unternehmungen außerhalb sind zum Schutz vor einer Ansteckung nicht erlaubt. In Bayern gibt es solche Ausgangssperren nicht. Sie sind laut bayerischem Gesundheitsministerium derzeit auch nicht geplant.
Das neuartige Coronavirus verbreitet sich durch Tröpfcheninfektion und kann die Lungenkrankheit Covid-19 auslösen. Vor allem für ältere und vorerkrankte Menschen kann eine Infektion lebensgefährlich werden. Sie gehören zur sogenannten Risikogruppe.
Alternativen für Besuchsbeschränkungen
Für viele Bewohner des Leutkircher Seniorenzentrums Carl-Joseph, in dem auch Jehmlich lebt, ändert sich mit den neuen Bestimmungen aber erstmal relativ wenig. "Viele sind stark pflegebedürftig und haben Erledigungen des täglichen Lebens wie Einkäufe schon längst aus der Hand gegeben", erklärt Pflegedienstleiterin Annabelle Emmermann.
Die Besuchsbeschränkungen für Angehörige seien dagegen deutlicher spürbar. Die von der Vinzenz von Paul gGmbH getragene Einrichtung hat sich Alternativen überlegt und bietet jetzt etwa Skype-Plätze für die Bewohner an. "Familien bringen auch Fotos, Briefe und Gebasteltes für ihre Angehörigen vorbei", schildert Emmermann. Man versuche den Kontakt zu halten, und das eben auf anderen Wegen.
Über die Stimmung in der Einrichtung mit ihren 86 Bewohnern habe man sich zunächst etwas Sorgen gemacht. Zu Unrecht, wie sich herausgestellt habe. "Die Bewohner nehmen die neuen Regeln super an", sagt Emmermann. Und auch die mehr als 100 Mitarbeiter des Hauses seien mit Pandemie-Plänen und Schutzausrüstung gut gewappnet. Auch wenn Letzteres wie in vielen anderen Einrichtungen knapp sei.
Kein Freiheitsentzug bei Heimbewohnern möglich
"Der Umgang mit Viruserkrankungen ist immer Teil unseres Alltags, aber auf einen solchen Verbrauch von persönlicher Schutzausrüstung, die für uns im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig ist, war niemand vorbereitet", sagt Roy Hummel, Regionalleiter Allgäu und Göppingen der Vinzenz von Paul gGmbHSoziale Dienste und Einrichtungen. Ein spezielles Team kümmere sich um die Beschaffung, weil es bei Lieferungen von Bund und Ländern hapere.
Die Ausgangssperre per Verordnung hält Hummel für gut gemeint, jedoch derart kaum realisierbar. "Als Träger von Pflegeeinrichtungen können wir zwar in einem gewissen Rahmen unter den aktuellen Gegebenheiten das Besuchsrecht einschränken, jedoch nicht verhindern, wenn ein Bewohner die Einrichtung verlassen möchte", sagt er. Für freiheitsentziehende Maßnahmen seien aus gutem Grund die Gerichte und die Polizei zuständig.
Für Jehmlich sind Spaziergänge außerhalb des Seniorenzentrums erstmal kein Thema. Und auch Schutzausrüstung spiele für ihn persönlich vorerst keine Rolle. "Ich setze mir erst den Mundschutz auf, wenn es vorgeschrieben ist. Solange entscheide ich selbst", sagt Jehmlich. Denn eines dürfe auch in Zeiten von Corona nicht vergessen werden: Selbstbestimmung. Und die dürfe man auch älteren Menschen aus der Risikogruppe zugestehen.