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Musik Warum eine Orgel in der Schlagenthiner Kirche eine Besonderheit ist

Derzeit wird in der Schlagenthiner Kirche eine Orgel installiert. Und das ist für das Gotteshaus und die Ortschaft eine kleine Sensation. Die neue Orgel wird an den Weihnachtsfeiertagen erstmalig zu hören sein.

Von Thomas Skiba 21.12.2021, 06:30
Fünf Register werden mit den Orgelpfeifen bestückt, die unterschiedliche Klangfarben erzeugen.  Jedes Register wiegt ungefähr 250 Kilogramm und damit insgesamt kommen über eine Tonne auf die Waage, an denen die Helfer zu schleppen hatten.
Fünf Register werden mit den Orgelpfeifen bestückt, die unterschiedliche Klangfarben erzeugen. Jedes Register wiegt ungefähr 250 Kilogramm und damit insgesamt kommen über eine Tonne auf die Waage, an denen die Helfer zu schleppen hatten. Foto: Thomas Skiba

Schlagenthin - Regale lehnen an der verputzen Mauer, die Tische auf der Empore lassen das Furnier nur erahnen, silbrig schimmernde Röhren verdecken es. Jetzt klappern Schraubenschlüssel, schnauft ein Staubsauger und knappe Anweisungen erfüllen den Raum. Eine Orgel nimmt Gestalt an. Und das ist in dem Gotteshaus schon ein fast vergessener Anblick.

Die im letzten Jahr sanierte und im neuen Glanz erstrahlende Kirche in Schlagenthin wies fast alles auf, was ein sakrales Gebäude ausmacht: Altar, Chorraum und, wenn auch außerhalb stehend, einen Turm mit Geläut. Doch bisher fehlte eine Orgel, die mit atmosphärischem Klang das Gemäuer erfüllte. „Viele Jahrzehnte hatte sie keine spielbare Orgel“, sagt Dorforganist Andreas Plancke. Es gibt keine lebenden Zeitzeugen, die noch die alte Orgel spielen hörten, so der Kirchenmusiker.

Im Zuge der Restaurierung wurde sie ausgebaut und der Platz verwaiste. Dem Orgelsachverständigen der Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (EKM) zufolge, galt sie mittlerweile als unspielbar, nicht zu restaurieren und damit unrettbar verloren. Doch eine Kirche ohne Orgel – das geht überhaupt nicht. Das dachten sich die Mitglieder des Kirchenkreises und suchten nach einem passenden Instrument.

Orgel ersetzt Harmonium

Bisher spielte zu Gottesdiensten, Taufen oder Beerdigungen ein Harmonium auf oder elektronische Instrumente begleiteten die Feierlichkeiten. In Hermsdorf wurden sie fündig, so Plancke, dort gebe es eine Anlaufstelle in dem Orgeln, die nicht mehr benötigt werden, gesammelt und wieder abgerufen werden können. Die neue Orgel kommt aus einer Kirche in Oebisfelde und wurde erstmals in das Hermsdorfer Depot eingelagert.

Orgelrestaurator und Kantor Matthias Müller dazu: „Die Gläubigen werden weniger, Pfarrer müssen immer größere Einzugsgebiete abdecken und so kommt es, dass Kirchen profaniert werden.“ Dies bedeutet eine Einweihung und dass sie meist einer weltlichen Nutzung unterliegen, wenn nicht gar der Abriss droht. Hier sei dann eine eventuell vorhandene Orgel überflüssig, diese werde dann entweder auf direktem Weg anderen Kirchen angeboten oder findet ihren Weg ins thüringische Hermsdorf. Kurzerhand reiste Plancke dorthin, begutachtete den Klangkörper, zerlegte ihn so, dass ein Aufbau der unzähligen Teile problemlos möglich ist.

Dabei griff er auf die Erfahrung von Müller zurück. „Es ist eigentlich mit dem Ab- und Aufbau eines Schranks zu vergleichen“, sagt Müller, nur dass eine Orgel eben nicht nur aus Türen, Seitenwänden und Fächern besteht. Vielmehr musste jedes noch so winzige Teil mit Krepp beklebt werden, das dann beschriftet wurde.

Wiederaufbau ein Puzzlespiel

Und doch erwies sich der Wiederaufbau als Puzzlespiel, nur dreidimensional. Messschieber, Lehren und ein fotografisches Gedächtnis sind unabdingbar, um einem komplizierten Gebilde wie einer Orgel wieder Töne zu entlocken. Dazu kommen jede Menge Erfahrung und ein absolutes Gehör. Matthias Müller verfügt über all das. Gemeinsam mit Andreas Plancke wird er die neue alte Orgel auf der Empore installieren und intonieren, also die Tonhöhen genau abstimmen.

Bei der neuen Orgel handelt es sich um ein Hochpositiv mit einem Manual und angehängtem Pedal, so Plancke, erbaut von dem Orgelbauer Gerhard Böhm aus Gotha. „Leider gibt es diese Firma nicht mehr, sie baute zu langlebig.“ Die Orgel hat fünf Register. Das Pfeifenwerk ist, abgesehen von den Prospektpfeifen, vollständig als Schwellwerk ausgeführt, die Lamellentüren werden durch einen Registerzug bewegt. Das sei ungewöhnlich, sagt der Kirchenmusiker und Orgelkenner, da das Schwellwerk bei den meisten Orgeln nicht auf der gesamten Breite ausgebildet sei. Mit diesem werden die Lautstärke, die in den Raum fließt, per Öffnen und Schließen der Lamellen per Hand reguliert.

Der Orgelbauer Böhm hat von diesen Instrumenten mit kleinen Änderungen über Jahre hinweg mehr als 50 Stück gefertigt und die meisten sind in ihrer technisch soliden Bauweise mit mechanischer Spiel- und Registertraktur vielerorts nach wie vor zuverlässig. Für die klimatischen Bedingungen in der Schlagenthiner Kirche sei das Instrument weitaus besser geeignet als das pneumatisch traktierte Vorgängerinstrument, „und auch besser als jeder elektronische Ersatz“.

Viele Gemeinden haben kein Interesse mehr an Orgeln

Müller erlebt immer wieder, dass ganze Ortschaften, ja Kirchengemeinden wenig oder überhaupt kein Interesse an ihrer Orgel haben. „Dabei hat dieses Instrument die meisten Älteren an den Eckpfeilern ihres Lebens begleitet.“ Sie erklang zur Taufe, Konfirmation, Hochzeit und beim Begräbnis, „es gehörte einfach dazu – von der Wiege bis zu Bahre“.

Dank der vielen kleinen und größeren Spenden konnte die Orgel beschafft werden, sagt Rüdiger Schnapp, Vorsitzender des Fördervereins der Schlagenthiner Kirche. „Gerade die Familie Schröder, die Anfang der 1950er Jahre Schlagenthin verlassen musste, zeigte sich großzügig.“ Zum Heiligen Abend wird die neue Orgel in Schlagenthin zum ersten Mal im Rahmen des Gottesdienstes zu hören sein.

Jennifer Arians unterstützt den Aufbau mit ihrer Fingerfertigkeit.
Jennifer Arians unterstützt den Aufbau mit ihrer Fingerfertigkeit.
Thomas Skiba
Andreas Plancke  organisierte die Beschaffung der Orgel.
Andreas Plancke organisierte die Beschaffung der Orgel.
Thomas Skiba
Passende Schläuche in der richtigen Länge sind das A und O einer mit Luft betriebenen Orgel. Sie verbinden das Windwerk mit dem Spieltisch und übertragen die Schaltvorgänge zu den gewünschten Pfeifen. Arians tauscht defekte Schläuche aus und ersetzt sie mit neuem Material.
Passende Schläuche in der richtigen Länge sind das A und O einer mit Luft betriebenen Orgel. Sie verbinden das Windwerk mit dem Spieltisch und übertragen die Schaltvorgänge zu den gewünschten Pfeifen. Arians tauscht defekte Schläuche aus und ersetzt sie mit neuem Material.
Thomas Skiba
Hunderte Orgelpfeifen müssen an dem richtigen Platz sitzen. Die Öffnungen sind auf Mikrometergröße abgestimmt. Schon kleinste Abweichungen, entstanden durch Beschädigungen, erzeugen einen schiefen Ton. Hier zählen Erfahrung und Präzision.
Hunderte Orgelpfeifen müssen an dem richtigen Platz sitzen. Die Öffnungen sind auf Mikrometergröße abgestimmt. Schon kleinste Abweichungen, entstanden durch Beschädigungen, erzeugen einen schiefen Ton. Hier zählen Erfahrung und Präzision.
Thomas Skiba
Früher durch sogenannte Kalkanten betrieben –  Jungen, die Blasebalge treten mussten – übernimmt heutzutage ein lautloser elektrisch betriebener Verdichter die Luftzufuhr. Auch hier müssen die Maße passen, Messschieber und ein gutes Auge sind unerlässlich.
Früher durch sogenannte Kalkanten betrieben – Jungen, die Blasebalge treten mussten – übernimmt heutzutage ein lautloser elektrisch betriebener Verdichter die Luftzufuhr. Auch hier müssen die Maße passen, Messschieber und ein gutes Auge sind unerlässlich.
Thomas Skiba