Barrierefreiheit Hä?

Auch Worte können Hürden sein. Der diesjährige Aktionstag für mehr Barrierefreiheit in Halberstadt widmet sich der leichten Sprache.

Von Sabine Scholz 07.09.2017, 10:07

Halberstadt l Verstehen Sie jedes Behördenschreiben auf Anhieb? Steuerbescheide? Briefe der Rentenkasse oder Arbeitsagentur? Wäre es nicht schön, man müsste nicht dreimal überlegen oder jemanden fragen, der sich mit diesem speziellen Vokabular auskennt? Genau das will leichte Sprache erreichen. „Bei leichter Sprache geht es darum, komplexe Texte in eine Form zu bringen, die die meisten Menschen verstehen“, sagt Gunnar Gotthardt.

Der Mitarbeiter der Diakonie-Werkstätten Halberstadt hat sich diesem Thema verschrieben und ist gerade gemeinsam mit der Studentin Janine Sawilla dabei, das Büro für leichte Sprache in der Werkstatt aufzubauen. Zurzeit werden dort das Leitbild der Werkstätten und die Mitwirkungsverordnung für den Werkstattrat in leichte Sprache übersetzt.

Das ist nicht einfach, gibt Gotthardt zu, so mancher Paragraf lässt sich nicht einfacher erklären. „Es geht dabei ja auch nicht um eine 1:1-Übersetzung. Sondern wir wollen wesentliche Inhalte so formulieren, dass sich auch Menschen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten diese selbstständig aneignen können.“ Also ohne Hilfe lesen und erfassen, wo-rum es geht. Deshalb arbeiten im Büro auch Menschen mit ganz unterschiedlichen sprachlichen und geistigen Fähigkeiten mit.

Das Übersetzen, erklärt Gotthardt, ist ein langwieriger Prozess. Es gibt verschiedene Regelwerke für leichte Sprache. Die Halberstädter halten sich an das, was das Netzwerk für leichte Sprache bevorzugt. „Aber es ist nicht so, dass man einfach in einem Wörterbuch nachschauen kann“, ergänzt Janine Sawilla. Die Harsleberin studiert in Halle Förderschulpädagogik und bringt Chefetage und Gruppenleiter regelmäßig auf den neuesten Stand der Forschung. „Das ist uns ein wichtiges Anliegen, neue Erkenntnisse rasch in die Praxis umzusetzen“, sagt Werkstätten-Geschäftsführerin Sandra Giebel.

Etwas Komplexes in leichte Sprache zu übersetzen, verläuft eigentlich in zwei Prozessen: die eigentliche Übersetzung und die Prüfung. Nach einer grundlegenden Erfassung des Inhaltes wird dieser in verständlichere Worte gefasst und in Sätze, die den Lesenden direkt ansprechen. Außerdem gibt es keine Schachtelsätze, sondern nur Hauptsätze und nur eine Aussage pro Zeile. So lassen sich die Aussagen besser vom Lesenden erfassen.

Im Prüfprozess arbeiten dann Übersetzer und Prüfer, zumeist Menschen mit Handicap, gemeinsam an den Texten. Ist es verständlich? Kann man es noch einfacher, treffender sagen? „Das ist ein spannender, aber auch sehr langwieriger Prozess“, berichtet Gunnar Gotthardt.

Erste Aufträge außerhalb der Werkstatt gibt es schon – von Firmen, in denen Menschen mit Handicaps arbeiten. Wenn es um Arbeitssicherheit oder Brandschutz geht, sollte jeder rasch erfassen, was von ihm verlangt wird und nicht erst komplizierte Schachtelsätze entwirren müssen.

Meist werden die übersetzten Texte in unterschiedlichen Gruppen geprüft, dann wird alles zusammengebracht und nochmal geprüft, bevor es nach außen gegeben wird. Diese Auseinandersetzung mit Sprache bereichert alle Beteiligten, selbst wenn man einfachere Worte sucht.

Dabei hat leichte Sprache nichts mit schlechtem Deutsch zu tun oder ist gar Negierung der Schönheit gut formulierter Texte. „Lyrik lässt sich nicht übersetzen“, sagt Janine Sawilla. „Wir können zwar den Inhalt in leichter Sprache wiedergeben, aber nicht die Besonderheit, die Poesie ausmacht. Aber darum geht es bei leichter Sprache ja auch nicht.“

„Jeder Mensch hat das Recht, zu verstehen und verstanden zu werden“, sagt Sandra Giebel. „Das ist Voraussetzung, um sich mitzuteilen und am Alltag teilnehmen zu können.“

Weil man komplexe Dinge an Beispielen besser verständlich machen kann, haben sich die Organisatoren des Aktionstages, der sich in diesem Jahr dem Schwerpunkt Kommunikation widmet, einige witzige und hintersinnige Beispiele einfallen lassen. Postkarten mit übertrieben komplizierten Formulierungen zum Beispiel und deren Übersetzung. „Minimale Dedikationen prolongieren die Permanenz interpersonaler Relationen“ – heißt schlicht: Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.

Sogar einen bekannten Psalm kann man zum Aktionstag in leichter Sprache lesen. Die Übersetzung von Psalm 23 (Der Herr ist mein Hirte) ist deutlich länger als das Original, was zeigt, wie inhaltsschwer einzelne Worte sein können, wie dicht einzelne Sätze.

Wofür die Mühe? Damit möglichst viele Menschen erreicht werden können, sagt Gunnar Gotthardt. Und das sind längst nicht nur jene mit einer geistigen Behinderung. Im Alter lässt bei vielen Menschen die Merkfähigkeit nach, da sind kurze Sätze hilfreich. Wer aus einem anderen Sprachraum kommt, kann sich mit Texten in leichter Sprache besser zurechtfinden. Und mal ehrlich, einen Steuerbescheid in leichter Sprache zu bekommen, das würde wohl niemand verachten.