Buchhandel Eingeschlossen: Nachts im Buchladen
Wie fühlt es sich an, zwischen lauter Büchern eingeschlossen zu sein? Das kann in einem Halberstädter Buchladen getestet werden.
Halberstadt l Kurz nach 19 Uhr an einem Dienstagabend. Es ist schon dunkel, Halberstadts Innenstadt zeigt sich beinahe menschenleer. Während in den Geschäften ringsherum die Lichter ausgehen und Türen abgeschlossen werden, steht die zur Buchhandlung Schönherr einladend weit geöffnet. Cornelia Bürger, Mitinhaberin des Geschäfts, begrüßt mich mit einem Händeschütteln und einem breiten Lächeln. „Sie sind die Dritte“, sagt sie. Acht weitere Personen sollen noch folgen. Unter meine Vorfreude mischt sich unterschwellig ein mulmiges Gefühl. Immerhin kenne ich keine der Personen und werde gleich mehrere Stunden mit ihnen in dem kleinen Geschäft verbringen. Hinter verschlossener Tür.
So unterschiedlich wir in dem Raum auch sind, bin ich mir über eine Gemeinsamkeit sicher: Wir sind alle Büchernarren. „Einschließen und Genießen“ heißt die Veranstaltung, zu der wir gekommen sind. Das bedeutet, dass wir bei Snacks und Wein nachts den Buchladen erkunden dürfen. „Sie können alles anfassen und auspacken, was Sie interessiert“, sagt Cornelia Bürger, und hält demonstrativ eine Schere hoch. Dann verlässt sie den Raum, schließt die Tür von außen ab. Weit weg wird sie nicht sein, hat sie vorher verraten, beim Spanier nebenan.
So, nun sind wir also allein. Umgeben von Hunderten – vielleicht sogar Tausenden – von Büchern. Wo soll ich da nur anfangen? Etwas ratlos und überfordert angesichts der enormen Auswahl gehe ich dahin, wo ich mich auskenne, die Abteilung mit Kriminalgeschichten und Thrillern. Nicht, dass mein Bücherregal damit nicht schon voll genug wäre. Aber mehr geht immer. „Ich habe knapp 400 Bücher zu Hause. Zwei Drittel davon sind Krimis“, flüstert mir Susann augenzwinkernd zu. In der Hand hält sie die nächsten potenziellen Kandidaten fürs heimische Regal. Vor allem die Skandinavier haben es der 50-Jährigen angetan.
Die Freundin, die sie heute Abend begleitet, schmökert gerade in einem bunt illustrierten Buch mit dem Titel „Glücksorte im Harz“. Es gibt eben mehr als Blut und Tatorte.
Findet auch Doris Rünzel. „Mich interessiert alles, was mit Persönlichkeitsentwicklung zu tun hat“, verrät sie. Heute stöbert die 52-Jährige nicht nur für sich. „Eine gute Gelegenheit, schon mal nach Weihnachtsgeschenken zu gucken“, sagt die Halberstädterin, bevor sie zum nächsten Regal schlendert.
Geschenke sind auch im immer größer werdenden Stapel von Karin Schmid zu finden. Mit dem Buch über Serviettenfalttechniken will die 64-Jährige zum Beispiel eine Freundin überraschen. „Heute entdecke ich mal ganz neue Sachen. Wenn man Zeit hat, guckt man mal in ganz andere Ecken als sonst“, sagt sie. Die Halberstädterin ist gemeinsam mit ihrer Freundin Nicole aus Osterwieck bei „Einschließen und Genießen“. Eine Premiere, aber sicher nicht das letzte Mal. „Man kann in Ruhe blättern, sich so viel Zeit nehmen wie man will, ohne sich verpflichtet zu fühlen, etwas kaufen zu müssen“, fasst Karin Schmid zusammen.
Vorzüge, die Andrea Daniwitsch schon lange zu schätzen weiß. Sie ist Stammgast beim Einschließen. „Wann hat man schon die Gelegenheit, sich so viel Zeit zu nehmen?“, fragt sie rhetorisch. Als Lesestoff bevorzuge sie Geschichten, die mit ihrer eigenen und der ihrer Familie zu tun haben, also in Ostpreußen spielen oder mit der DDR in Zusammenhang stehen. Zuletzt hat sie Kati Naumanns Roman „Was uns erinnern lässt“ gelesen – klassisch gedruckt und nicht auf einem E-Reader. „Ich mag das Gefühl der Seiten, den Geruch eines echten Buches“, berichtet die 59-Jährige.
Mit ihrer Ausbeute setzt sich die Halberstädterin an einen der bereitgestellten Tische. Dort hat bereits das Ehepaar Kolodeizik aus Harsleben Platz genommen. Beide sind ganz vertieft in ihre Lektüre. Während sich die ehemalige Deutsch- und Englischlehrerin Inge Kolodeizik für Belletristik interessiert, blättert ihr Mann Klaus durch einen Bildband zur Geschichte von Nationalpolitischen Erziehungsanstalten (Napola). „Romane sind nicht so meins, ich interessiere mich mehr für Regionales und Geschichtliches“, berichtet der ehemalige Chemiker.
Da steckt plötzlich Cornelia Bürger ihren Kopf durch die Tür. „Ist alles in Ordnung?“, fragt sie. Allgemeines Nicken, und schon ist die Buchhändlerin wieder verschwunden.
Zwar tuscheln die Teilnehmer immer mal wieder miteinander, es wird leise gelacht und sich gegenseitig beraten – „Das musst du unbedingt lesen!“ – doch die meiste Zeit über ist es überraschend still in dem Geschäft. Jeder zieht sich mit seiner Vorauswahl in eine Ecke zurück, nimmt in einem Sessel, auf Klappstühlen oder einer Sitzecke voller bunter Kissen Platz. Die Zeit scheint beinahe stillzustehen.
Doch irgendwann ist es soweit: Cornelia Bürger schließt die Tür wieder auf. Es ist 22 Uhr, die Veranstaltung neigt sich dem Ende zu. Doch bevor alle ihre Jacken anziehen und sich mit einem seligen Lächeln im Gesicht auf den Heimweg machen, führt sie der Weg zur Kasse.
Ohne Buch verlässt niemand den Laden. Auch ich nicht. Ich nehme – wenig überraschend – einen Thriller mit nach Hause, „Liebes Kind“ von Romy Hausmann, und die Gewissheit, dass ich mich definitiv noch einmal in einem Buchladen einschließen lasse.