Hildegard Wiechert hat einen Schutzengel Bewohnerin der Neinstedter Anstalten feiert: Seit 65 Jahren ist kirchliche Einrichtung ihr Zuhause
Hildegard Wiechert lebt seit 65 Jahren in Wohnhäusern der Neinstedter Anstalten. Annerose Schulze, Leiterin der Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung in Calvörde, hat ihr zum Jubiläum eine Erinnerungsurkunde geschenkt.
Calvörde l "Ich habe schon manchmal im Leben einen Schutzengel gehabt", ist sich Hildegard Wiechert sicher. Die 87-Jährige, die von ihren Mitwohnern liebevoll Hildchen genannt wird, war zu Tränen gerührt, als Annerose Schulze, Leiterin der Behinderteneinrichtung, ihr vor ein paar Tagen eine Erinnerungsurkunde und einen großen Blumenstrauß überreicht hatte. Seit 65 Jahren sind die Neinstedter Anstalten das Zuhause von Hildegard Wiechert, die 1925 in Aweyden (Ostpreußen) auf die Welt kam. "Meine Mutter ist früh gestorben. Mein Vater war im Krieg geblieben. Und ich war als junges Mädchen drei Jahre lang in russischer Kriegsgefangenschaft. Da sind mir die Füße eingefroren. Die Ärzte wollten mir schon ein Bein abnehmen. Es war eine schlimme Zeit. Schon damals hatte ich wohl einen Engel, der mich beschützte", denkt sie zurück und sagt mit leiser Stimme: "Wir waren sechs Geschwister. Nur mich gibt es noch." Gezeichnet von den damaligen Erlebnissen im Krieg und in der Gefangenschaft kam die damals 22-Jährige ins Schloss Detzel, das zu den Neinstedter Anstalten gehörte. Anette Klug, die seit 22 Jahren in der kirchlichen Einrichtung arbeitet und für die Tagesförderung verantwortlich ist, meint: "Sie war traumatisiert. Es gab damals ja keine Therapien. Ansonsten hätte Hildchen vielleicht ein ganz normales Leben führen können."
Ihr Schutzengel habe dafür gesorgt, dass sie ins Schloss Detzel kam. "Als ich dort ankam, hatte ich kurz geschorene Haare und einen alten Anzug an. Der Heimleiter dachte, ich wäre ein Junge und gab mir erst einmal einen warmen Mantel", denkt sie zurück. Viele schöne Jahre habe sie im Schloss erlebt. 2002 zog sie gemeinsam mit ihren Mitbewohnern in die neuen Häuser der Neinstedter Anstalten nach Calvörde. Im Haus Bonin bewohnt sie als die älteste Bewohnerin ein geräumiges Zimmer. "Die alten Schränke habe ich aus dem Schloss mitgenommen", verrät sie und zeigt auf ihre Kostbarkeiten. Dazu gehören auch ihre Fotoalben, die voll Erinnerungen stecken. "Das ist Horst, der kam aus Neinstedt und war mein Freund", verrät sie und zeigt auf das fast vergilbte Foto mit dem hübschen jungen Mann, der aber bereits gestorben ist.
Froh sei sie, dass sie ihre "Familie" bei den Neinstedter Anstalten gefunden hat. "Hier kümmert man sich um mich", sagt sie mit Bestimmtheit. Anette Klug ergänzt: "Und Hildchen kümmert sich um alle anderen. Sie hilft beim Aufräumen, beim Bettenmachen, beim Wäschelegen und bei der Zubereitung des Essens." Obwohl sie bis um 7 Uhr schlafen könnte, ist sie jeden Morgen um 5.30 Uhr auf den Beinen. Sie setzt sich für die Einhaltung von Ordnung und Sauberkeit ein. Außerdem ist die Handarbeit ihre Leidenschaft. Sie häkelt Topflappen und bastelt zu allen Angelegenheiten.
"Vor einige Jahren war Hildchen sehr krank - Darmkrebs", erzählt Anette Klug. Ihr Schutzengel war wieder im Einsatz. Trotz ihres Schicksals habe sie nie ihren Lebensmut und ihren Humor verloren. Gelernt hat sie von ihrer Jugend an, dass sie sich in der Gemeinschaft behaupten muss. Sie lässt sich nichts gefallen. "Wenn es sein muss, kann ich auch schimpfen", betont sie.
Eines steht für die Jubilarin fest, ihren Lebensabend möchte sie gemeinsam mit ihrem Schutzengel im Haus Bonin verbringen. "Wo soll ich denn sonst hin? Hier ist doch mein Zuhause."