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Mauerfall-Jubiläum So fiel die Grenze in Stapelburg

Stapelburg war das Ende der Welt. Heute liegt es mitten in Deutschland. Und das wird gefeiert. Grenzübergreifend.

Von Sandra Reulecke 12.11.2019, 10:54

Stapelburg l Vor genau 30 Jahren stand Steffi Geisler an der gleichen Stelle. Damals mit ihrem eigenen Kind auf dem Arm und voller Unglauben, dass das Geschehen um sie herum Realität ist, wie sie berichtet. Die Grenze, die 28 Jahre lang den Osten vom Westen trennte, war geöffnet. Um sich das mit eigenen Augen anzusehen, sei sie damals aus Abbenrode gekommen. 10 957 Tage später, erläutert die Lehrerin Drittklässlern aus Stapelburg, wie sie sich damals fühlte, warum es ein Tag zum Feiern ist und warum hier so viele Menschen aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen zusammenkommen.

„Bis vor 30 Jahren durfte hier niemand hergehen“, sagt sie zu den Kindern. Können die überhaupt schon begreifen, was eine Grenze mitten in Deutschland bedeutet? „Es ist erstaunlich, wie viel sie schon wissen“, sagt Steffi Geisler. „Sie stellen viele Fragen, das Thema interessiert sie.“

Die Grundschüler warten gespannt darauf, sich den ehemaligen Grenzbunker und alte Militärfahrzeuge, die auf dem Gelände ausgestellt werden, anzusehen. Derweil präsentieren ältere Schüler – vom Landschulheim Grovesmühle, dem Fallstein-Gymnasium Osterwieck, vom Gerhart-Hauptmann-Gymnasium Wernigerode und vom Niedersächsischen Internatsgymnasium Bad Harzburg – Besuchern der Gedenkveranstaltung des Landes Sachsen-Anhalt und des Harzkreises ihre Auseinandersetzungen mit der jüngeren deutschen Geschichte. Die Jugendlichen zeigen selbst gedrehte Filme und Interviews mit Zeitzeugen wie Benno Schmidt alias „Brocken-Benno“, präsentieren Info-Tafeln und stellen Projekte vor.

Das Osterwiecker Gymnasium besitzt die Patenschaft für das Grenzdenkmal in Wülperode, welches in der Nacht zum 9. November von Unbekannten zerstört wurde. „Lassen Sie sich davon nicht entmutigen“, appelliert Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU). Er verspricht in der Festveranstaltung: „Wir bauen das gemeinsam wieder auf.“ In dem Fall ermittelt nun der polizeiliche Staatsschutz.

Haseloff ist gemeinsam mit Umweltministerin Claudia Dalbert (Bündnis 90/Grüne) zum Empfang der Gemeinde Nordharz am Grenzdenkmal am Grünen Band in Stapelburg gekommen. In seiner Ansprache betont er, wie sehr die Ereignisse vor 30 Jahren ihm in Erinnerung geblieben sind. Und in seinem Ausweis. Das Visum, das er 1989 für Grenzübertritte ausgestellt bekommen habe, trage er darin bis heute bei sich, verrät er, bevor er wieder ernst wird. „Die Menschen haben sich zu Recht das Recht genommen, die Mauer einzureißen.“ Das gelte insbesondere für die Stapelburger, die in Sichtweite zu den niedersächsischen Nachbarn lebten, ohne sie je erreichen zu können.

Heute, 30 Jahre nach dem Mauerfall, gebe es noch immer Unterschiede zwischen Ost und West, räumt der Ministerpräsident ein. „Aber man darf die Lebensleistung, was bisher erreicht wurde, nicht klein reden“, betont er. „Wir können dankbar dafür sein, dass wir heute hier nicht mehr im Todesstreifen sind.“ Haseloff fordert Lehrer und Eltern auf, die Geschehnisse an die folgenden Generationen zu vermitteln.

Interessiert die das überhaupt? Wollen Schüler von heute wissen, was damals passiert ist? „Ich finde das alles sehr spannend“, sagt Marika Linde aus Wernigerode. „Meine Eltern haben mir ganz viel erzählt. Bei ihren Geschichten habe ich mit ihnen gelitten und mich gefreut“, sagt die 15-Jährige.

Wie die Familie der Schülerin erinnern sich dieser Tage viele an die turbulente Zeit rund um die Grenzöffnung. Zu ihnen zählen Margot und Joachim Kiesl. Die beiden leben heute in Seesen, vor 30 Jahren wohnten sie bei Eberswalde (Brandenburg). „Meine Schwester und ich wollten am 10. November 1989 zu unserer Tante nach Bad Harzburg reisen, sie hatte einen Tag später 50. Geburtstag.“

Das Visum schon in der gepackten Tasche, hörte die heute 65-Jährige vom Mauerfall in Berlin – und hat es nicht fassen können. Am nächsten Tag habe sie sich dort auf dem Weg zur Grenze in einem Menschenauflauf wiedergefunden – wohl als eine der wenigen, die ein Visum hatten. Die Grenzöffnung, so sagt sie, sei „das Beste, was passieren konnte“. Sie könne nicht verstehen, dass es bis heute Menschen gibt, die das anders sehen. Ihr und ihrem Mann seien keine Vorurteile entgegengebracht worden, als sie vor 22 Jahren als „Ossis“ nach Seesen zogen. Für das Ehepaar ist es wichtig, heute – natürlich nachdem sie der Tante in Bad Harzburg zum 80. Geburtstag gratuliert haben – beim Jubiläum in Stapelburg dabei zu sein.

Hier sind Werner Simon und Peter Röhling gefragte Interviewpartner. Sie waren damals aktiv an der Grenzöffnung beteiligt – der eine auf DDR-Seite, der andere in der BRD.

Röhling, damals 24 Jahre alt, arbeitete gerade am Haus, das er im 500-Meter-Sperrgebiet in Stapelburg gekauft hatte. „Meine Frau hörte im Radio, dass die Grenze geöffnet werden soll.“ Also habe er Kaffee, Kuchen, Kinder und Stühle ins Auto gepackt und sei losgefahren. Die Grenzer wollten ihn jedoch nicht durchlassen, berichtet der Stapelburger den Besuchern. Unter anderem hätten die Soldaten gesagt, dass ihnen das Werkzeug fehle. „Das war unser Stichwort. Wir waren mit dem Trabbi da, da hat man immer Werkzeug dabei“, berichtet Röhling und erntet dafür Lacher aus dem Publikum.

Auf der anderen Seite der Grenze stand vor 30 Jahren Werner Simon, seit 1966 beim Bundesgrenzschutz. „Eine echte Überraschung“ seien die DDR-Bürger gewesen, die einfach die Grenze auseinander geschraubt haben. „Dafür gibt es kein Drehbuch“, sagt Simon. Bis heute halten die beiden Männer Kontakt und berichten von ihrer ersten Begegnung. Erst vor wenigen Tagen war Röhling dafür in Lochtum eingeladen. „Vor 30 Jahren war es einfacher zum Mond zu kommen, als dahin“, sagt er. Er appelliert an die Schüler: „Hört euch die alten Kamellen an. Man darf die Geschichten nicht vergessen.“