Erstklässlerin Lena wird versehentlich eingeschlossen / Kind erleidet beim Fall aus fünf Metern Höhe Verletzungen Unfall in Schule: Sechsjährige stürzt aus Fenster
Bei einem tragischen Unglück in der Schwanebecker Grundschule ist eine Erstklässlerin schwer verletzt worden. Das sechsjährige Mädchen stürzte aus dem Fenster eines Klassenraums in der zweiten Etage. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Körperverletzung und Verletzung der Aufsichtspflicht.
Schwanebeck l Die sechsjährige Lena kann künftig zweimal im Jahr Geburtstag feiern. Nicht nur Anfang Januar, sondern fortan auch am 5. Oktober. In den Mittagsstunden dieses Tages ist die Erstklässlerin aus Eilenstedt, die seit Herbst die Grundschule "Am Baumhof" in Schwanebeck besucht, aus dem Fenster eines Klassenraums gestürzt. Wie durch ein Wunder überlebte das Kind den Sturz aus rund fünf Metern Höhe.
"Abgesehen von einer Platzwunde am Kopf und Verletzungen am Handgelenk ist unserer Kleinen glücklicherweise nichts passiert", berichtet Lenas Vater Tino Niederberger. Von Knochenbrüchen sei das Kind ebenso verschont geblieben wie von inneren Verletzungen. "Die Ärzte haben Lena drei Tage lang in der Klinik durchgecheckt und glücklicherweise nichts gefunden. Lena muss mindestens zehn Schutzengel gehabt haben", meint ihr Vater.
Dabei scheint das tragische Unglück, über das offiziell der Mantel des Schweigens gebreitet wurde und das erst jetzt gerüchteweise publik geworden ist, nach Recherchen der Volksstimme letztlich eine höchst tragische Verkettung vieler unglücklicher Umstände zu sein.
Es ist Freitag, der 5. Oktober, gegen 11 Uhr. Erstklässlerin Lena hat Unterrichtsschluss und begibt sich zur Bushaltestelle, um den 11.26 Uhr in Richtung Eilenstedt/Dardesheim fahrenden Bus zu nehmen. Als die Sechsjährige die wenige Meter von der Schule entfernte Station erreicht, sieht sie nur noch die Rückleuchten des Busses. Schon hier beginnt die Tragik jenes "schwarzen Freitags", berichtet ihr Vater. Lena sieht den falschen Bus abfahren - es ist jener, der zuvor planmäßig in Richtung Nienhagen abfährt. Lenas "richtiger" Bus wäre erst rund zehn Minuten später gestartet, der nächste folgt um 13.04 Uhr.
"Die Ärzte haben Lena durchgecheckt und nichts gefunden. Lena muss zehn Schutzengel gehabt haben."
Tino Niederberger, Vater der sechsjährigen Lena
Die Erstklässlerin, die allein unterwegs ist, geht zurück zur Schule. Dort sei sie, berichtet ihr Vater nach den Schilderungen seiner Tochter, von einer Lehrerin oder Betreuerin gebeten worden, sich wieder auszuziehen und in den Klassenraum zu setzen. Weil der zwischenzeitlich wohl von einer anderen Klasse genutzt wird und die Kleine wegen des verpassten Busses einigermaßen durcheinander ist, landet sie schließlich in Klassenraum 2.09 im Obergeschoss.
Unklar ist nach Recherchen der Volksstimme gegenwärtig offenbar, ob ein Erwachsener Lena den Raum extra aufgeschlossen hat oder ob er noch offen war. Am Ergebnis ändert das freilich nichts. Nach einigen Minuten schließt irgendwer den Raum von außen ab. Offenbar im Glauben, dass er leer sei, und offenbar auch, ohne noch einmal einen prüfenden Blick hineingeworfen zu haben.
Ein fataler Schritt. Als Lena registriert, dass sie eingeschlossen ist, nimmt ihre Klopfgeräusche niemand wahr. In ihrer Not entsinnt sich die Schülerin des Fensters. Sie versucht, sich dort bemerkbar zu machen, schließlich befindet sich nur wenige Meter entfernt ein Gehweg. Der Versuch, so auf ihre missliche Lage aufmerksam zu machen, mündet geradewegs in die Katastrophe: Das längst in Panik geratene Kind lehnt sich zu weit aus dem Fenster und stürzt hinaus.
So beschreibt jedenfalls Vater Tino Niederberger jene tragischen Minuten. Wobei Lena wohl buchstäbliches Glück im Unglück und weit mehr als nur zehn Schutzengel hatte: "Sie konnte sich nach ihren Schilderungen wohl noch kurz am Fenster festhalten, sodass sie offenbar nicht kopfüber, sondern mit den Füßen zuerst abgestürzt ist." So landet Lena auf einem Kiesbett und dem angrenzenden Rasen, der den Aufprall wohl dämpft. "Die Polizei sprach von rund fünf Meter Höhe, die sie gemessen hat", sagt der 38-Jährige.
Minuten später sind Notärzte und Rettungskräfte vor Ort, um sich um die Sechsjährige zu kümmern. Lena kommt in die Klinik nach Halberstadt, wo sie umfassend untersucht und auch geröntgt wird, um jegliche Verletzungen auszuschließen. Nach eingehenden Checks können die Ärzte die Eltern beruhigen: Außer der Platzwunde an der Stirn, die fachkundig vom Chirurgen genäht und nun wohl als Narbe dauerhaft an den "schwarzen Tag" erinnern wird, haben die Schutzengel Lena vor Schlimmerem bewahrt.
Nach drei Tagen in der Klinik wird das Kind wieder entlassen. Tags drauf, am Dienstag, dem 9. Oktober, besucht sie schon wieder die Schule. Ein Fakt, auf den auch Schulleiterin Insa Gnade verweist: Das Mädel habe ja nur einen Tag gefehlt. Mehr wolle sie zum Vorfall nicht sagen.
Auch die Polizei hält sich wegen der laufenden Ermittlungen weitgehend bedeckt. Sprecher Peter Pogunke bestätigt indes den Fakt des Unglücks als solchen. "Der Notruf ist am 5. Oktober um 11.43 Uhr eingegangen, zunächst war von einem Verkehrsunfall die Rede." Derzeit ermittle die Polizei von Amts wegen, um die genauen Abläufe zu klären. "Wir prüfen die Vorwürfe der fahrlässigen Körperverletzung und der Verletzung der Aufsichtspflicht." Im Kern gehe es darum, zu klären, ob jemandem eine ursächliche Pflichtverletzung vorzuwerfen sei oder ob es sich tatsächlich um eine tragische Verkettung unglücklicher Umstände handele. Ob der Fall zivilrechtliche Konsequenzen habe, sei Sache der Eltern.
"Wir prüfen die Vorwürfe der fahrlässigen Körperverletzung und der Verletzung der Aufsichtspflicht."
Peter Pogunke, Polizeisprecher
Die wollen offenbar nichts weiter unternehmen, lässt Vater Tino Niederberger durchblicken. "Die Schule hat bereits erklärt, dass sie alle Kosten übernimmt. Wir sind heilfroh, dass die ganze Sache so glimpflich abgegangen ist."
Bleibt bei aller Tragik die Frage, warum Lena allein zum Bus unterwegs war. Laut Kultusministerium endet die Aufsichtspflicht der Schule an der Schultür. Soll heißen: Der Weg zum Bus und nach Hause fällt - selbst bei Erstklässlern - als Schulweg nicht darunter. Zugleich aber besteht für Wege von der Schule zur Sporthalle (Unterrichtswege) laut Erlass bis zur Klassenstufe sechs eine Aufsichtspflicht. Ist das nicht ein Widerspruch an sich?