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Kriegsende Jugendliche betteten gefallene Soldaten um

Vor 75 Jahren ging an Elbe und Havel der Zweite Weltkrieg zu Ende. Ein Zeitzeuge ist der 91-jährige Richard Bollmann aus Hohengöhren.

Von Ingo Freihorst 26.04.2020, 14:26

Hohengöhren l Fast hätte auch Richard Bollmann als Panzerjäger bei der Panzerdivision „Herrmann Göring“ in den letzten Kriegstagen noch an die Front gemusst, doch war der damals 16-jährige mit zwei weiteren Kameraden in der Nacht zum 12. April 1945 aus der Kaserne in Altengrabow getürmt. Mit dabei war ein Kölner, welcher ausgebombt war und in Jederitz wohnte sowie ein Bauernsohn. Dazu hatten sie heimlich Teile ihrer Zivilsachen behalten, welche eigentlich alle abgegeben werden mussten. Die vormilitärische Ausbildung als „Panzerknacker“ hatte er beim Volkssturm in Burg erhalten.

Auf der Flucht sahen sie von weitem die „Kettenhunde“, also die Feldpolizei. Diese hätte mit ihnen kurzen Prozess gemacht – Deserteure wurden von den „fliegenden Standgerichten“ auf der Stelle erschossen. Dieses Schicksal hätte einen aus dem Trio später fast ereilt.

Ein Munitionslaster nahm das Trio bis Fischbeck mit. Von dort ging es zu Fuß weiter. Kurz bevor sie die Straße zur Tangermünder Brücke erreichten, flog die Brücke in die Luft. Das Umfeld war wie das gesamte Elbufer übersät mit Fahrzeugen, Munition und Ausrüstungsgegenständen. Der Hohengöhrener nahm sich hier einen Planwagen samt Pferd mit.

Als Richard Bollmann Hohengöhren erreichte, wurde der unter Beschuss liegende Ort gerade evakuiert. „Dabei erhielt ein Zwei-Familien-Haus einen Volltreffer“, erinnerte sich der Senior. Allein die Kirche wies nach dem Artilleriebeschuss 23 Treffer auf. Die Hohengöhrener flohen zum Damm, Richard Bollmann kutschierte die Habe der Familie dorthin.

Am Abend wurden zwei Pfeiler der Eisenbahnbrücke Hämerten in die Luft gesprengt. Statt der Bahnbrücke führte nach dem Krieg eine Holzbrücke über die Elbe, welche aber im Winter 1947 bei starkem Eisgang zusammenbrach.

„Am 6. Mai waren die Russen ran“, erinnerte er sich. Er hatte deshalb einen Kahn besorgt, um Verwandtschaft und Familie über die Elbe zu setzen. Drei Male ruderte er über den Strom, wobei die Kräfte immer mehr nachließen.

Beim dritten Anlegen am Ostufer wurde der Kahn von einem Wehrmachtsoffizier und drei Soldaten beschlagnahmt. – Das Quartett, so vermutet Richard Bollmann, hatte zuvor einige Deserteure um Hohengöhren erschossen – und floh nun selbst. Vorsichtshalber fuhr er mit rüber, sonst hätte er den Kahn nicht zurückbekommen. Zuletzt setzte er seine Mutter mitsamt dem Handwagen über, Ziel war die Tante in Miltern. Auf dem Weg dorthin wurden sie von Amerikanern nach der Zeit gefragt – schwupp, war die Uhr vom Onkel weg. In Miltern waren Wohnhaus und Kuhstall der Tante voller Flüchtlinge.

Auch um Hohengöhren wurde heftig gekämpft, die Wenck-Armee verteidigte ihren Brückenkopf an der Elbbrücke erbittert. So sollten noch möglichst viele Soldaten und Zivilisten dem Zugriff der Roten Armee entzogen werden.

Am 12. April hatten die Amerikaner das Westufer der Elbe erreicht und verharrten hier – so hatten es die Staatschefs in Jalta beschlossen. In Hohengöhren hatte man sogar noch Schützenlöcher in den Deich gegraben, welche nach Osten ausgerichtet waren – man hoffte, gemeinsam mit den Amis noch gegen die Russen kämpfen zu können...

In der Region fielen in den letzten Kämpfen des Krieges, als das „Großdeutsche Reich“ auf nur wenige Quadratkilometer zusammengeschrumpft war, noch fast 700 Wehrmachtssoldaten. Sie wurden wegen der Kämpfe nur hastig verscharrt. Allein um Hohenhöhren gab es 18 Soldatengräber – darunter auch mehrere Opfer der Standgerichte. Richard Bollmann sammelte zusammen mit anderen Jugendlichen die Toten ein, sie wurden auf dem dafür neu geschaffenen Soldatenfriedhof an der Ortsdurchfahrt bestattet. Das Bergen der Toten kostete sehr viel Überwindung, da die Leichen teils schon in Verwesung übergegangen waren. Der Senior erinnert sich, dass ein Toter im feuchten Erdreich regelrecht festgesogen gewesen war, ein Pferd musste ihn deshalb herausziehen.

In einer Nacht- und Nebel-Aktion – was im Ort für sehr viel Unmut sorgte – wurden die Kriegsopfer 1965 ein zweites Mal umgebettet: An der Stelle des Friedhofs sollte ein Neubau entstehen, weshalb die Toten in einer alten Gruft neben der Kirche ihre endlich allerletzte Ruhestätte fanden. Den Gedenkstein für die Kriegsopfer stiftete Richard Bollmann nach der Wende.

Er hatte übrigens kurz nach dem Krieg nochmals mächtig Glück: Nach einem Tanzabend in Kabelitz waren die Jugendlichen mit ihren Fahrrädern auf dem Heimweg, als ihnen im Wald ein russischer Soldat entgegenradelte. Er verlangte das Rad eines der Jungen, die Freunde eilten diesem daraufhin zu Hilfe. Da kam „zufällig“ ein Wagen voller weiterer Rotarmisten hinzu, sie eröffneten sofort das Feuer – ein Junge starb, ein weiterer wurde verletzt.

Richard Bollmann wurde kurz danach verhaftet, kam erst nach Jerichow und dann nach Genthin über Wochen ins Gefängnis. Zum Glück fand sich beim Prozess in Genthin ein Fürsprecher, so dass er freigesprochen wurde. „Ich hatte wirklich viel Glück im Leben,“ blickte der Hohengöhrener im Gespräch zurück.