Nach dem furchtbaren Attentat Magdeburgs Domprediger über den Anschlag und seine Folgen
Domprediger Jörg Uhle-Wettler über den theologischen Blick auf Anschlag und Attentäter, Opfer und Bewältigung sowie die Magdeburger Stadtgesellschaft und welche Rolle der Dom spielt.

Magdeburg - Das Attentat auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt am 20. Dezember 2024 bewegt die Magdeburger bis heute. Ob direkt oder mittelbar betroffen – die schreckliche Tat hat tiefe Wunden gerissen und beschäftigt die Elbestädter auch Wochen danach noch. Neben professioneller Hilfe suchen viele Magdeburger auch Beistand in der Familie, bei Freunden und Bekannten, aber auch beim Dom und seinem Pfarrer. Volksstimme-Redakteur Rainer Schweingel sprach mit Domprediger Jörg Uhle-Wettler über seine Erfahrungen seit dem Anschlag und ob er den Attentäter besuchen würde.
Anschlag auf Weihnachtsmarkt in Magdeburg: Domprediger Jörg Uhle-Wettler im Interview
Volksstimme: Wie haben Sie den Zeitpunkt des Anschlages erlebt?
Jorg Uhle-Wettler: Ich war im Domchor-Konzert und saß in der ersten Reihe, weil ich eine Ansprache halten sollte. Dann bekam ich mit, dass die Leute immer aufs Handy sehen und dachte mir: Können die nicht eine Stunde mal das Handy auslassen? Irgendwann kam der Küster zu mir und sagte: Es hat ein Attentat mit vielen Toten gegeben. Ich habe dann in meiner Rede gesagt: Irgendetwas ist passiert. Wir werden nicht „O du fröhliche“ singen. Und: Wenn wir rausgehen, wird uns irgendeine Wucht treffen. Die Leute sind dann raus. Der Domchor hat dann am nächsten Tag sein Programm geändert und es wurde der Trauergottesdienst daraus.
Der Dom und sein Pfarrer sind seit Jahrhunderten auch immer ein Zufluchtsort gewesen. Wie haben Sie die Tage und Wochen danach wahrgenommen?
Es war und ist eine sehr intensive Zeit. Hier bei mir haben Leute geklingelt, die einfach nur reden wollten. Meine Mitarbeiter und ich haben sehr viele Gespräche geführt. Einer hat sogar berichtet, er war beim Anschlag auf dem Breitscheidplatz dabei und hier bei uns in Magdeburg. Der wollte beispielsweise wissen, ob er das Böse anzieht. Neben den Gesprächen, die wir geführt haben, haben wir aber auch zu professionellen Hilfsangeboten vermittelt.
Was für Trost kann ein Pfarrer spenden?
Irgendwelche vorschnellen Bibelworte sind völlig fehl am Platze. Wir können aber empathisch aktiv zuhören. Manche Leute reden eine halbe Stunde und ich sage gar nichts – und sie sind dann ein Stück weit erleichtert und bedanken sich, dass einfach ein Ort da ist, an dem sie sich mitteilen und dem sie sich anvertrauen konnten. Und wenn man im Dom unter dem 32 Meter hohen Kirchenschiff eine Kerze anzündet, dann kann das auch Kraft geben.
Der Pfarrer vom Breitscheidplatz in Berlin hat mir geschrieben: Die Stille spricht, wenn es die Worte nicht mehr können. Das finde ich passend. Deshalb haben wir den Dom auch länger aufgelassen. Wenn man da eine Weile sitzt, kann man erahnen, wieviel Trost und Zuversicht der Dom in den vielen Jahrhunderten seines Bestehens schon gespendet hat.

Ich habe meinen Leuten auch gesagt: Wenn dort Menschen sitzen, sprecht sie nicht an. Diese Menschen führen einen inneren Dialog. Das Letzte, was man dann will, ist, dass man angesprochen wird. Nach meiner Beobachtung und Erfahrung waren Hunderte von Menschen einfach nur dankbar, im Dom sein zu können. Das kann man auch an der vierfachen Zahl der Kerzen ablesen, die von Besuchern angezündet wurden.
Was sagen Sie denen, die sagen: Hätte Gott diesen Anschlag nicht verhindern müssen?
Die Warum-Frage kann ich nicht beantworten. Wüsste ich es, wäre ich Gott. Es ist eine menschliche furchtbare Tragödie. Ich denke theologisch, aber, dass Gott immer auf der Seite der Mitleidenden ist.
Wenden sich in solchen Zeiten wieder mehr Menschen der Kirche zu – sind die Gottesdienste oder nur der Dom voller seit dem 20. Dezember 2024?
Der Dom wurde unglaublich stark besucht an den Tagen nach Weihnachten. Wir haben unsere Angebote geändert, beispielsweise die fröhlichen Lieder herausgenommen. Auch der Charakter der Gottesdienste hat sich gewandelt. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. Die 2.000 Jahre alten Worte: „Das Licht scheint in der Finsternis und ist stärker als die Mächte der Finsternis“ – das wirkt plötzlich noch einmal ganz anders als vorher. Man kann mit den Leuten ein Stück ihres Weges gehen. Man kann ihnen allerdings keine Schmerztablette geben. Aber man kann den Schmerz gemeinsam aushalten.
Wie können Sie und alle anderen Pfarrer in der Stadt wieder Hoffnung geben?
Man darf sich nicht nur mit diesem schrecklichen Vorfall beschäftigen. Man sollte stattdessen sagen: Ich gehe jetzt mal bewusst im Herrenkrug oder an der Elbe oder einem anderen passenden Ort zum Beispiel spazieren. Einfach deshalb, dass man sich nicht immer wieder auf dieses Thema des Anschlages fixiert. Und auch ganz wichtig: Immer wieder austauschen mit anderen Menschen.
Wie bewerten Sie die Reaktionen aus der Politik?
Leider werden solche schrecklichen Vorfälle auch politisch instrumentalisiert und von manchen auch pauschalisiert auf alle Ausländer übertragen. Das ist bei aller Tragik grundfalsch. Ich weiß von betroffenen Ausländern, dass sie sich nicht auf die Straße getraut haben. Und ich habe sogar den Eindruck, dass die ausländischen Paketdienst-Fahrer seitdem besonders freundlich sind. Das zeigt ja auch, in welcher Situation sie sich befinden. Ich sage immer: Ja, auch Polen klauen Autos, aber nicht alle Polen klauen Autos.
Magdeburg hat 1631 und 1945 Stadtzerstörungen erleben müssen. Wie würden Sie den 20. Dezember 2024 einordnen: Steht er in einer Reihe mit diesen Ereignissen, zumindest, was die Traumatisierung betrifft?
Es ist auf jeden Fall ein weiteres Datum, an dem Magdeburg eine große Wunde geschlagen wurde. Man kann natürlich nicht Tausende Tote mit sechs Toten vergleichen. Das ist immer schwierig. Aber die Stadtgesellschaft ist durch dieses furchtbare Ereignis noch einmal mehr zusammengewachsen.
Kann man dem Attentäter theologisch gesehen vergeben?
Ich bin schon gefragt worden, ob ich den Mann besuchen würde: Die Antwort ist ein klares Nein.
Das christliche Menschenbild kennt nur Gotteskinder. Ist der Attentäter noch ein Gotteskind?
Das ist eine große Frage. Als der Attentäter von Erfurt die 17 Kinder erschossen hatte, da hatte der Bundespräsident 18 Kerzen aufstellen lassen und die Namen verlesen. Bei der 18. Kerze hat er gesagt: Egal, was ein Mensch macht, er bleibt ein Mensch. Da stand ich mit auf dem Erfurter Domplatz. Man kann sich vorstellen, was da los war.
Aber zurück. Wir haben im „Vater unser“ nicht umsonst die Bitte: Erlöse uns von dem Bösen. Das Böse ist nicht personifiziert und kann schon Macht über Menschen haben. Und wenn man sich selber kennt, erschrickt man sich ja auch manchmal über sich selbst. Aber schon im Römerbrief steht: Rache steht dem Menschen nicht zu. Vergeben aber auch nicht.
Ob man will oder nicht: Weihnachtsmarkt und Anschlag gehören in Magdeburg nun für immer zusammen. Wie soll man Ihrer Ansicht nach mit dem Weihnachtsmarkt umgehen?
Der Weihnachtsmarkt sollte stattfinden, sonst gibt man dem Attentäter ja noch nachträglich nach, indem man Angst hat. Am 20. Dezember aber nicht, da sollte alles zu sein. Den Domplatz hält die Gemeindeleitung für unangebracht.
Die Musik auf dem Weihnachtsmarkt hat eher derben Skihüttencharakter. Die würde mit unserem hochkarätigen Musikangebot im Advent und in der Weihnachtszeit kollidieren.