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Was uns der Magdeburger Domprediger zu Heiligabend zu sagen hat Bewegender Appell zur Weihnacht: Frieden ist kein Märchen

Zu Heiligabend veröffentlicht die Magdeburger Volksstimme traditionell die Weihnachtspredigt des Dompredigers. Jörg Uhle-Wettler hält sie in der Christnacht am 24. Dezember 2025 um 23 Uhr im Magdeburger Dom.

Von Jörg Uhle-Wettler, Domprediger im Dom zu Magdeburg 24.12.2025, 06:00
Der Domprediger Jörg Uhle-Wettler vor einer Weihnachtsmarkthütte in Magdeburg. Am Abend des Anschlags auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt hatte ein Händler  alle Schaffelle verschenkt, damit die Verletzten auf dem harten Boden weich liegen konnten.
Der Domprediger Jörg Uhle-Wettler vor einer Weihnachtsmarkthütte in Magdeburg. Am Abend des Anschlags auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt hatte ein Händler alle Schaffelle verschenkt, damit die Verletzten auf dem harten Boden weich liegen konnten. Foto: Viktoria Kühne

Zu Heiligabend veröffentlicht die Magdeburger Volksstimme traditionell die Weihnachtspredigt des Dompredigers Jörg Uhle-Wettler. Die Predigt im Wortlaut:

Die Weihnachtsgeschichte ist kein Märchen. Die Worte sind verbürgt, überliefert und aufgeschrieben – von den Hütern der Worte und Bewahrern der Botschaft. Wir haben sie gerade hier im Dom gehört. Ohne diese Geburtsgeschichte, keine Baugeschichte eines Domes. Und doch will ich mit einem Märchen beginnen. Märchen haben einen wahren Kern. Sie lügen weniger als die Gattung der Geschichtsbücher.

Ein Königspaar wünscht sich lange ein Kind. Als die Tochter endlich geboren ist, feiern sie zur Taufe ein großes Fest. Zwölf goldene Teller haben sie, also laden sie zwölf Feen ein, ihre Tochter zu segnen. Eine dreizehnte Fee platzt in die Feier und verflucht das Kind zum Tode – durch einen Stich mit der Spindel. Doch hat eine Fee ihren Segen noch nicht gesprochen und mildert den Tod zu hundertjährigem Schlaf. Der König lässt alle Spindeln verbrennen. Als das Mädchen fünfzehn Jahre alt ist, findet es eine Spindel im äußersten Turmzimmer, sticht sich und fällt in einen hundertjährigen Schlaf. Die dichten Dornen wachsen um das Schloss. Es gibt keine vollkommene Sicherheit. Freiheit und Sicherheit schließen sich auf Erden aus.

Beklemmender Besuch auf dem Weihnachtsmarkt

Der Besuch auf dem Weihnachtsmarkt hatte in diesem Jahr für mich auch etwas Beklemmendes. Durch eine Dornenhecke aus Sandsäcken, Pollern, großen Legosteinen und leeren Containern ging ich, um den Stand zu besuchen, an dem Schaffelle verkauft werden. Im letzten Jahr habe ich den polnischen Händler als „meinen Weihnachtsengel“ bezeichnet. Er hat in dem Grauen alle Schaffelle verschenkt, damit die Blutenden auf der Erde weich liegen. Zu ihm ging ich, um ihm einen Engel zu schenken.

Wer töten will, der findet einen We

Es gibt in einer freiheitlichen Gesellschaft leider keine Sicherheit. Wer töten will, findet einen Weg. Und doch steht die Stadtgesellschaft zusammen, die ihre Verletzungen der Jahrhunderte in der DNA abgelegt hat. Die unglaublich große Lichterkette am Samstag hat es wieder eindrücklich gezeigt. Unausgesprochen wurden Fremde zu Vertrauten. Der Bundeskanzler zitierte hier in Magdeburg einen Satz von Jesus aus der Bergpredigt: „Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden“. Das Leid der Betroffenen, das bei der Gedenkveranstaltung unserer Stadt in Worte gekleidet wurde, es berührte meine Herzhaut. Gott ist ein Mitleidender, uns Menschen an der Seite.

Jesus als Lebensbruder

Ich will in dieser Nacht den Horizont noch etwas aufziehen und den Blick von Magdeburg in die Welt weiten. Die Weihnachtsgeschichte berichtet über die Geburt von Jesus, den wir als Gottes Sohn bezeichnen. Ich persönlich nenne ihn auch gerne meinen Lebensbruder.

Die Silhouette vom Magdeburger Dom.
Die Silhouette vom Magdeburger Dom.
Foto: Peter Gercke

Jesus errichtet keine Brandmauer. Liebt Eure Feinde. Kein göttliches Gebot ist so unerfüllbar, wie diese drei Worte. Zu viel Missgunst, Neid, Propaganda und Gier verschatten den rettenden Gedanken. Das mediale Dauerfeuer unserer aktuellen Waffennarren und Waffennärrinnen ist unerträglich. Gegenmeinungen finden in den geschwätzigen Fernsehrunden kaum Platz oder werden überbrüllt. Wie in Mexiko die Hahnenkämpfe, so in Deutschland die Debatten. Der Unteroffizierston ist der Sound dieser Tage. Wie wohltuend doch da die Worte aus der Weihnachtsgeschichte und die Zusagen der Prophetie, die wir hier in den Lesungen hören konnten. Der Friedensfürst kommt in die Welt.

Vermengung historischer Tatsachen

Dem Menschen, der Gott sein will, stellt sich ein Gott entgegen, der Mensch wird. Frieden auf Erden, bei den Menschen seines Wohlgefallens! In alten Bibeln steht noch: den Menschen ein Wohlgefallen. Aber es sind die Menschen Seines (Gottes Wohlgefallen) gemeint. Die sich für den Frieden einsetzen und nicht vom Sieg schwafeln. Das Verschweigen von Fakten lässt die Fakten nicht verschwinden. Der Friedefürst ist geboren!

Die Vermengung historischer Tatsachen mittels Moral und Empörung, Rechthaberei und Hybris sind Techniken politischer Selektion. Die sind wiederum nötig, um kriegerische Zustände zu ermöglichen und auszuhalten. Die Gefahr, die jedem Krieg droht, ist schlimmer als der Mangel an Waffen, die Verständigung der Kontrahenten. Es gilt zu versöhnen, statt zu verhöhnen. Verstehen und Verständnis scheinen aus dem Duden gestrichen zu sein. Russlandversteher ist ein Schimpfwort geworden. Wer versteht oder versucht, etwas von einer anderen Person, Epoche oder Motivlage zu verstehen, gilt als verdächtig.

Bergpredigt gilt in Magdeburg und in Moskau

Ich war im August in Moskau, dem Kloster Segijew Possad und Saint Petersburg. Niemand der besuchten Menschen dort will Krieg. Es war mitunter beschämend, wie freundlich die Menschen sind. Sie haben eine große Kultur und einen tief verwurzelten Glauben. Auch die russische Bevölkerung hat Leid erfahren. Sehr viel Leid. Auch sie soll getröstet werden. Jesu Wort aus der Bergpredigt gilt in Magdeburg und Moskau. In Kiew und im Kongo. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.

Nach dem letzten großen europäischen Krieg, der seine Nummerierung als Zweiter Weltkrieg erhielt, schrieb Bertolt Brecht 1951 einen offenen Brief an die Künstler im Lande: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig, nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“

Einen dritten Weltkrieg übersteht auch unser Dom nicht

Das große Europa darf keinen dritten Krieg führen. Das große Europa darf sich nicht in einen Krieg hineinziehen lassen. Einen dritten Weltkrieg übersteht auch unser Dom nicht.

Die Weltkarte wird derzeit wieder einmal neu gezeichnet. Blöcke verschieben sich und das fertige Bild ist nicht absehbar. Der Atlas der Weltgeschichte lässt sich blättern wie ein Daumenkino. Ständig verschieben sich in den Jahrtausenden die Ländergrenzen. Die Machteinflüsse steigen auf und schwinden wieder. Es wird aufgebaut und zerstört, aufgebaut und wieder zerstört. Die Aufbaupläne für die Ukraine sind längst beschlossen. Vorher muss die Rüstungsindustrie aber noch kräftig verdienen. Warum gelingt es uns nicht, sie einzudämmen, wie es uns bei der Tabakindustrie gelungen ist. Tabak ist schädlich, steht auf jeder Packung und die Aufklärungskampagne hat die Tabakindustrie um enorme Millionengewinne gebracht.

Morden ist ein Verbrechen

Warum funktioniert das nicht auch bei der Rüstungsindustrie? Töten ist schädlich! Morden ist ein Verbrechen! Jedes Leben ist wertvoll, einzigartig und unwiederbringlich. Wie verdanken uns nicht aus uns selbst heraus, sondern sind gerufen in das Leben zum Leben.

Jesus mit sicherem Krippenplatz in einer bedrohten Welt gibt Freiheit und Sicherheit denen, die sich an ihm orientieren.

Warmes Herz in der Kühle der Kathedrale

Ich sehe, spüre, höre und glaube. Ich sehe euch hier im Dom. In dieser Nacht kommen wir heute zusammen, um die große Geburt zu feiern. Ich spüre, dass wir in der Kühle der Kathedrale ein warmes Herz haben. Ich höre die Orgel und unsere Stimmen bei den acht Gesängen. „O du fröhliche“ haben wir letztes Jahr nicht über die Lippen gebracht. In zwanzig Minuten singen wir es aber wieder. Es ist eine Hymne der Freude und Rettung.

Und ich glaube. Mein Glaube hüllt sich in den Mantel der Poesie.

Ich glaube manchmal zu vertrauen auf einen, der sich Sohn des Menschen nennt.

Ich glaube manchmal, ich kann bauen auf den, der meine Schwächen kennt.

Ich glaube manchmal, ich kann gehen mit einem, der mein Bruder ist. Ich glaube manchmal zu verstehen, dass der im Stall mich nicht vergisst.

Ich glaube manchmal, nur Sekunden, dass mich nicht Angst und Hass verschlingen.

Ich glaube manchmal, es gibt Stunden, die mich dem andern näherbringen. Ich glaube manchmal, ich kann glauben, dass aller Sinn nicht sinnlos ist. Ich glaube manchmal mit dem Tauben, dass ihn die Blinde nicht vergisst.

Und der Friede Gottes, der höher ist, als es unsere Vernunft begreift, dieser Friede segne unsere Herzen und Sinne – in Jesu Namen. Amen.

Anmerkung der Redaktion: Domprediger Jörg Uhle-Wettler hält diese Predigt am 24. Dezember 2025 um 23 Uhr im Magdeburger Dom.