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Inklusion Fast blind, doch Ziel fest vor Augen

Johann Utke ist 17 Jahre jung, seit seiner Geburt extrem sehbehindert. Er wird aller voraussichtlich irgendwann erblinden.

Von Harald Schulz 02.03.2019, 03:00

Oebisfelde l Trotzdem hat der Heranwachsende ein klares Ziel vor Augen: Er will Physiotherapeut werden, wenn möglich, mit eigener Praxis. Die Volksstimme besuchte ihn im Praktikum. Die erste Begegnung mit Johann Utke in der Physiotherapie-Praxis von Sabine Braumann in Oebisfelde war kurz. Johann, er erlaubte die Ansprache in der Du-Form, sauste durch den besetzten Warteraum mit dem Hinweis, er müsste noch kurz was erledigen, komme aber gleich. Verblüffend, wie ein Mensch, der nur noch über fünf Prozent Sehvermögen verfügt, scheinbar jedes Hindernis erkennend, sich trotz Enge bewegt.

Wenig später im Praxisbüro präsentiert Johann die Erklärung: „Ich bin mit dieser Sehbehinderung geboren worden. Ich kenne es nicht anders. Noch sehe ich für mich alles ziemlich deutlich, was unmittelbar vor mir geschieht. Allerdings ist auch mein Gesichtsfeld eingeschränkt. Das ist auch für mich ein Handicap“, erklärt er. „Das wird wohl alles nicht so bleiben. Irgendwann werde ich total erblinden, lautet meine medizinische Prognose. Damit muss und werde ich leben.“ Noch aber nutzt er sein Handy, fast wie jemand, der über eine optimale Sehstärke verfügt. Johann besitzt so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis. Jede Tastenbelegung hat er sich eingeprägt, nutzt WhatsApp, tickert seiner Mutter lieber einmal öfter zu ihrer Beruhigung, dass sie sich keine Sorgen zu machen braucht. Als Lesehilfe nutzt Johann ein spezielles Gerät, das ihm selbst das Zeitunglesen ermöglicht.

Johann ist gebürtiger Oebisfelder, wuchs aber bis zum zwölften Lebensjahr in Böckwitz auf. Dort auf dem Dorf war ihm das Spielen mit Freunden möglich. Und zwar auch Fahrradfahren, auf Bäume klettern, Ballspiele. Die Schulzeit begann und beendete Johann im Sonderschulzentrum Tangerhütte. Dort schloss er seine Schulzeit mit der Realschulreife ab. Derzeit bereitet er sich auf sein weiteres Leben am Förderzentrum Chemnitz der Landesschule für Blinde und Sehbehinderte vor.

Dort erlebt der 17-Jährige täglich das Wellental der Emotionen bei seinen Mitbewohnern. „Ich erlebe die Welt, wie ich sie seit meiner Geburt eben sehe oder nicht. Andere ereilt das Nicht-mehr-sehen-können plötzlich, beispielsweise durch ein Unglück. Das ist noch einmal eine andere Dimension als mein Leiden“, ist er überzeugt.

Aus diesem Grund möchte Johann auch als ein Multiplikator nicht allein für sehbehinderte oder blinde Menschen in jungen Jahren sein. Er tritt auch als ein Mutmacher für Menschen mit einer oder mehrere Behinderungen ein. Ob diese Beeinträchtigungen als Behinderung oder Handicap ausgedrückt werden, das ist Johann egal. „Das ist das Problem der anderen, nicht meins“, stellt Johann deutlich im verbindlichen Ton heraus.

„Es gibt Barrieren im Lebensalltag, die sind nicht zu überwinden, dazu zähle ich einen Führerschein zu erwerben. Wohl jeder Jugendliche in meinem Alter träumt von eigenem Auto, geht bei mir aber nicht. Jeder sollte die Stärken nutzen, über die er verfügt.“

Im Falle von Johann ist es sein Wunsch über den Ausbildungsweg zum Masseur nach dreieinhalb Jahren die Prüfung zum Physiotherapeuten bestanden zu haben. In Ermangelung von unzureichendem Nahverkehrsmittel will Johann später in einer Großstadt arbeiten. Wenn alles gut läuft, so seine Vorstellung, will er eine eigene Physiopraxis betreiben. Johann: „In einer Großstadt ist es einfacher sich zu orientieren, die Möglichkeiten des Nahverkehrs zu nutzen, vielfältig den Alltag zu erleben.“

Den ausschlaggebenden Anstoß für seine berufliche Zukunft erhielt er durch entsprechende Berufsberatung während der Schulzeit und dank eines Angebots von Sabine Braumann, ein Praktikum in ihrer Praxis wahrzunehmen – mittlerweile ist es bereits das zweite.

Johann ist in allem willensstark. Dass ist er auch in der Freizeit. Ohne Hilfsmittel ist er dann auch auf der Straße anzutreffen, was seine Mutter allerdings manchmal beunruhigt. Doch Johann beruhigt sie mit dem Hinweis, dass er erwachsen ist und seinen Mann stehen muss und das auch kann.