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Corona Sucht hält keinen Abstand

Lebenshilfe mit Abstand - zehn Wochen lang war das Alltag für die Mitarbeiter von Beratungsstellen oder Pfarrern.

Von Gesine Biermann 24.05.2020, 03:00

Altmark l Derzeit ist sie eigentlich im Homeoffice. Barbara Riep vom Paritätischen in Salzwedel kümmert sich aktuell vom Schreibtisch aus um ihre Klienten. Auch Helfer müssen sich schließlich schützen. Aber manches lasse sich einfach nicht am Telefon klären, sagt die engagierte Mentorin überzeugt, insbesondere nicht in der Lebensberatung. Die funktioniert seit zehn Wochen, wie so viele andere Kontakte, nur noch per Telefon. Doch nicht jeder, der Beratungsbedarf hat, will sich am Telefon mitteilen.

Und so fährt Barbara Riep nach einem Hilferuf aus Salzwedel in der vergangenen Woche wieder los, um sich mit einem ihrer Klienten persönlich zu treffen. „Wir sind durch den Park gegangen“, sagt sie. Ihr Büro in Salzwedel hätte den aktuellen Kontaktbeschränkungen nicht entsprochen. Doch auf zwei nebeneinander stehenden Parkbänken habe sich dann auch ein Plätzchen mit Abstand gefunden. Und so gibt es dort einfach mal ganz unkompliziert eine Beratungsstunde open air. Mit Mundschutz.

Der Mann, den Barbara Riep schon seit mehreren Jahren betreut, hat ein schweres Alkoholproblem. „Seine Frau hat ihm dann irgendwann das Ultimatum gestellt, sich entweder helfen zu lassen oder verlassen zu werden“, erzählt Riep. Durch die Gespräche sei es ihm eine lange Zeit besser gegangen. Dann kam Corona. Und ein Rückfall. Und er wollte sich dringend mit ihr treffen. Eine gute Entscheidung, denn das persönliche Gespräch mit ihr habe den Mann sehr erleichtert und beruhigt, versichert Riep.

Und auch in der kommenden Woche hat Barbara Riep wieder zwei Gespräche in der Hansestadt geplant. Dabei geht es um Depressionen. Betroffene haben, wie Suchtkranke auch, unter den aktuellen Kontaktbeschränkungen besonders zu leiden. Den Kontakt zu ihnen zu verlieren, sei nicht günstig. Deshalb sei es gut, dass Treffen jetzt auch wieder persönlich möglich seien.

Das findet auch Geschäftsführerin Andrea Schmieder vom Awo Sozialdienst Altmark. „Seit zum Beispiel die Spielplätze wieder offen sind, können sich die Familienberater unter Einhaltung der Vorgaben auch mal wieder persönlich mit ihren Klienten treffen.“ Allerdings hätten sich hier die Beratungen ohnehin einfacher gestaltet: „Wir kennen die Familien, die wir betreuen, ja oft schon sehr lange.“ Eine solche Vertrautheit könne auch eine Kontaktbeschränkung nicht so einfach beenden. „Die Arbeit hat sich natürlich auch bei uns verändert“, sagt Schmieder. „Wir haben schon gemerkt, wie wichtig der häusliche Besuch ist.“ Die Schwerpunkte bei der Awo lagen aber, ebenso wie beim Paritätischen, eher in der Suchtberatung.

Juliane Ensminger ist zum Beispiel eine der Beraterinnen der Awo, die sich in Gardelegen um Menschen kümmert, die drogen- oder alkoholabhängig sind. Und sie kann leider nicht ausschließen, dass einige von ihnen in den vergangenen Wochen durch die Kontaktbeschränkungen wieder rückfällig geworden sind. Sucht hält schließlich keinen Abstand.

Der Prozentsatz an Alleinlebenden sei sehr hoch. Zudem seien „über den Daumen“ rund 80 Prozent auch von Depressionen betroffen. „Für viele war der wöchentliche Besuch in der Selbsthilfegruppe der einzige feste Punkt, der einzige Kontakt zu anderen im Alltag. Und der ist einfach weggebrochen. Die Ansprechpartner fehlen.“

Ja, es habe viele Telefonate gegeben. Einige Klienten hätten von sich aus angerufen. Andere haben die Berater selbst kontaktiert. „Aber manche melden sich auch gar nicht.“ Wer der Versuchung wieder nachgibt, schämt sich oft auch dafür, weiß Ensminger.

Dass die fünf Selbsthilfegruppen – drei gibt es in Gardelegen, zwei in Salzwedel – gerade wieder anlaufen, weil sich mittlerweile bis zu vier Klienten und ein Berater treffen können, sei gut, betont sie.

Derzeit geht es offensichtlich erst mal um Schadensbegrenzung. Ob jemand auf der Strecke blieb? Sie kann es noch nicht sagen: „Wir müssen sehen, was übrig geblieben ist. Alles geht einfach nicht übers Telefon.“ Abstand kann eben auch krank machen.

Übrigens: Auch die Awo hat in Ausnahmefällen persönlichen Kontakt gehalten: So habe es einen Notfall in Sachen häuslicher Gewalt gegeben, erzählt Juliane Ensminger. „Da haben wir uns dann getroffen.“

Zuspruch auf Abstand, auch für Pfarrer Friedrich von Biela von der Salzwedeler Mariengemeinde war das nun wochenlang Alltag. Drei Pflegeheime betreut er seelsorgerisch. Dort herrschte wochenlanges Kontaktverbot. Seelsorgebesuche seien davon aber ausdrücklich ausgenommen, betont von Biela. Das habe seine Arbeit sehr erleichtert. Ausnahmen gelten auch in Sachen Sterbebegleitung. „Allerdings wurde ich dazu nicht gerufen.“

Besonders belastend sei die jüngste Zeit wohl für Angehörige gewesen, die Ehepartner oder Eltern nicht besuchen konnten, weiß von Biela. Die Abstandsregelung mache die Kommunikation schwer, in manchen Fällen unmöglich. „Gerade demente Heimbewohner sind aber aus der Entfernung schwer erreichbar.“ Für sie sei körperliche Nähe und Berührung ganz wesentlich. „Es kann schmerzhaft sein, wenn der Kontakt aus der Entfernung nicht gelingt.“ Fazit aller Berater: Die Lockerungen der Kontaktbeschränkungen sind für ihre Klienten derzeit besonders wichtig. Gut, dass sie kommen.

Dass die vergangene Zeit auch ein Chance sein konnte, ein solches positives Beispiel hat Suchtberaterin Juliane Ensminger aber auch: Eine ihrer Klientinnen, eine alkoholabhängige Frau, nutzte die Zeit der Kontaktbeschränkungen dafür, sich selbst zu sortieren, sich auf das zu besinnen, was sie kann. „Sie übernimmt wieder mehr Verantwortung für sich selbst, traut sich wieder Fahrradfahren zu, trifft sich wieder mit der Familie.“ Ein Lichtblick in dieser schwierigen Zeit.