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Erinnerung Aufatmen nach Kriegsende

Weihnachten 1944 und 1945 sowie das Jahr dazwischen - für den Salzwedeler Walther Böhme eine Zeit, die er nicht vergessen kann.

Von Uta Elste 24.12.2016, 02:00

Salzwedel l Weihnachten arbeiten und Silvester frei oder umgekehrt: Für Walther Böhme stellte sich die Frage damals, im Dezember 1944, nicht. „Ich wollte mit meinen Freunden schließlich den Jahreswechsel feiern.“ Also blieb der damals 15-Jährige an den Weihnachtsfeiertagen auf dem Hof von Familie Fischbeck in Wüllmersen, auf dem er seine landwirtschaftliche Ausbildung absolvierte. Eine schöne Zeit, resümiert er, und spricht heute noch von Arthur Fischbeck hochachtungsvoll als Chef.

Dabei wollte Walther Böhme im Februar 1944 noch Marinehelfer werden. Ein Offizier in schneidiger Uniform hatte unter den Jahngymnasiasten dafür geworben. Doch Walther Böhmes Vater, der damalige Pfarrer der Salzwedeler Marienkirche, hatte 1941 bereits seinen Sohn Johannes im Zweiten Weltkrieg verloren und legte sein Veto ein. „Ich war einer der wenigen, die nicht durften“, erinnert sich der heute 87-jährige Walther Böhme.

Statt Marinehelfer also die Ausbildung auf dem Bauernhof und 1944 das Weihnachtsfest mit Familie Fischbeck. „Der Tag begann um 6 Uhr im Pferdestall, wo wir die Pferde gefüttert und geputzt haben“, erzählt Walther Böhme. Vor allem die Pferde, stattliche Kaltblüter, hatten es ihm angetan, so sehr, dass ihm nach der Lehrzeit der Abschied von den Pferden beinahe schwerer fiel als der von den Menschen. Gleich vorn im Stall stand sein spezieller Liebling, eine braune Stute, die er öfter mit einem Stück Zucker bedachte.

Nach den Pferden kamen die Kühe an die Reihe, dann wurde der Hof gefegt, und schon drängte die Zeit für den Gottesdienst in der Kirche im benachbarten Mehmke. „Die Männer saßen damals auf der linken und die Frauen auf der rechten Seite in der Kirche. Die Regelung galt übrigens auch für Ehepaare “, erzählt Walther Böhme.

Auf den Bauern lastete im Krieg und auch danach der Druck, genügend Produkte zur Versorgung der Bevölkerung abliefern zu müssen. Wem das nicht gelang, dem drohten Sanktionen. „Das damalige Stadtgefängnis am Amtsgericht wurde auch ,Haus der Bauern‘ genannt“, blickt Walther Böhme zurück.

Dem Weihnachtsessen 1944 habe man das aber nicht angemerkt. „Es gab geradezu fürstliches Mittagessen, Rinder- oder Schweinebraten und gebratene Gans.“ Nach dem Kaffee und einer Pause begann das Füttern und Melken erneut. Geschenke habe es damals eigentlich nicht gegeben, so Walther Böhme weiter. Das Beisammensein von Familie, Lehrlingen und auch der beiden französischen Kriegsgefangenen stand im Mittelpunkt.

Nach Weihnachten erhielt Walther Böhme den Einberufungsbefehl zur Wehrerziehung auf der Huysburg nahe Halberstadt. Das Benediktinerkloster wurde zu dieser Zeit als sogenanntes Ausbildungslager der Hitlerjugend genutzt. Zusammen mit etwa zehn weiteren Gleichaltrigen fuhr er, betreut von einem Unteroffizier namens Müller, am 16. Januar 1945 mit dem Zug zunächst bis Magdeburg. Als die Gruppe dort gegen 20 Uhr eintraf, gab es bereits Voralarm. Die Menschen wurden aufgefordert, sich in die Unterführungen zu begeben, aus Sicht von Unteroffizier Müller wohl kein ausreichender Schutz. „Wir sind im Dauerlauf bis zu einer Gartenanlage gelaufen. Dort war ein Graben, in den wir uns legen und den Kopf auf die Arme nehmen sollten, damit wir noch Luft bekamen, falls Menschen auf uns fallen sollten.“ Er habe sich nicht vorstellen können, dass Bomben die ganze Stadt zerstören können. „Magdeburg - das war die schlimmste Nacht meines Lebens. Ich war in meinen Grundfesten erschüttert.“ Dass Menschen so miteinander umgingen, sei für ihn unfassbar gewesen. „Dabei gibt es nur Verlierer.“ Was auf der Huysburg folgte, nennt Walther Böhme heute „psychologische Nachbehandlung“ - Drill bis zur völligen Erschöpfung.

Nach der Wehrerziehung kehrte Walther Böhme nach Wüllmersen zurück. Am 22. Februar 1945 erlaubte ihm Arthur Fischbeck, nach Hause zu fahren, da er tags darauf Geburtstag hatte. Walther Böhme befand sich in der Nähe der Ritzer Brücke, als die Bomben auf den Salzwedeler Bahnhof fielen. „Die Bomber flogen im Kreis, sie kamen zurück, als die ersten Rettungsarbeiten begonnen hatten.“ Eingedenk seiner Magdeburger Erfahrung flüchtete Walther Böhme nicht in die Unterführung, sondern in die freie Natur.

Am 11. April 1945 sollte er sich zur Musterung auf dem Beetzendorfer Bahnhof einfinden. „Ich fuhr mit dem Fahrrad, und in Stöckheim hörte ich plötzlich Donner. Ich dachte, es gibt ein Gewitter, doch am Himmel waren keine Wolken zu sehen.“ In Stöckheim begegneten ihm flüchtende deutsche Soldaten, und am Abend jenes Tages kam die US-Army durch Beetzendorf.

Arthur Fischbeck, der als Teilnehmer des Ersten Weltkrieges den vermeintlichen Donner richtig als Geschützlärm erkannt hatte, warf die Musterungspapiere in den Ofen und empfahl seinem Lehrling, bei nahenden Flugzeugen immer unter den Bäumen Schutz zu suchen. „Die flogen so tief, dass man erkennen konnte, ob die Piloten rauchen“, sagt Walther Böhme.

Im Herbst 1945 begann die Winterschule für die Lehrlinge in Salzwedel an der Radestraße im Saal über der damaligen Fleischerei Görges. Walther Böhme durfte aus Wüllmersen eine Fuhre Futter für die zahlreichen Kaninchen mit nach Hause nehmen, die dort inzwischen zur Ernährung der Familie beitrugen. Schon als Schüler habe er sich die Tiere zugelegt, für die dann zwischenzeitlich die anderen Familienmitgliedern sorgten. „Meine Mutter hatte sich dann auch Rezepte besorgt, wie man aus Kaninchenfleisch Wurst machen kann.“ Denn inzwischen lebten nicht nur die Eltern in Salzwedel, sondern auch mehrere Verwandte bei ihnen, die bei Bombenangriffen auf Berlin und Hamburg obdachlos geworden waren. „Wir waren bis zu 18 Personen zu Hause, und viele blieben über Weihnachten hinaus bis 1946 bei uns.“

Rückblickend seien die Weihnachtsfeiertage 1944 und 1945 von großer Ungewissheit geprägt gewesen, von vielen Fragen und Bangen, was wohl die Zukunft bringen möge. „Aber zu Weihnachten 1945 konnten wir wieder aufatmen. Denn der Krieg war endlich vorbei, auch wenn die Ereignisse das Gemüt schwer erschüttert hatten.“