Mauerfall Frühstück für Punks

Der innerdeutsche Mauerfall zählt unzählige Geschichten. Eine ist die der Pensionsbetreiberin Hannelore Preu aus Salzwedel.

Von Alexander Rekow 26.07.2018, 12:20

Salzwedel l Auch wenn der Name Hannelore Preu nicht jedem bekannt ist, ihr Haus dürfte es vielen Salzwedelern sein. Es ist die weiße Villa in der Nicolaus-Gercken-Straße 8, direkt am Fußweg über die zugewachsenen Bahngleisen zum Freibad. Dort, wo auch die Platanenallee abgeht, in der Kurve. Generationen sind auf diesen Weg zum Salzwedeler Freibad geradelt, vorbei an dem Haus. An ihrer Pension wusste ein jedes Kind, gleich geht es baden. So bekannt die äußere Erscheinung des Hauses vielen Einwohnern sein mag, so beliebt ist das Innere – die Gästebücher belegen es. Denn die Pension „Tinaro“ von Hannelore Preu, nach ihrem Sohn Tino benannt, blickt auf eine bewegte Geschichte. Der Startschuss fiel mit einem anderen zusammen. Mit dem Fall der Mauer begann der Pensionsbetrieb. „Meine Enkel sind mit dem Rad über die Grenze nach Bergen/Dumme gefahren und haben erzählt, bei Oma ist die Wohnung leer“, erinnert sie sich. Ein Pärchen mit Kindern habe zu DDR-Zeiten das obere Stockwerk des Hauses bewohnt – eine Polizeiwohnung. „Die haben sich für eine Zulage von 400 Mark vier Tage vor dem Fall der Mauer ins Sperrgebiet nach Rockenthin versetzen lassen“, schmunzelt die Seniorin. Beide waren seinerzeit Volkspolizisten. Fortan war die Wohnung im oberen Stockwerk komplett leer. „Ich hatte da weder Bett noch Schrank“, erinnert sie sich. Den Gästen war es egal, die kamen trotzdem.

Eher sich die heute 88-Jährige versah, hatte sie 1990 erstmals 30 Gäste auf ihrem Grund. „Die haben zum Teil draußen gezeltet.“ Isomatten, Luftmatratzen, Schlafsäcke und Feldbetten dienten zum Schlafen. Überall standen Fahrräder und Autos aus Niedersachsen bei ihr auf dem Hof.

„Die Leute wollten sich den Osten anschauen, wie wir leben“, erinnert sie sich. Selbst die Heizungsrohre und die Technik begutachteten die Gäste. Um die ganzen Besucher mit Kaffee am Morgen zu versorgen, hatte Hannelore Preu zeitweise bis zu 15 Kaffeemaschinen in betrieb. Lebensmittel brachten die Gäste zum Teil selbst mit. „In Salzwedel gab es außerdem spottbillig Kartoffeln und Fleisch.“ Nur die exquisiten Sachen wie Zungen nicht. „Die hat der Fleischer für Westgeld an die Gäste verkauft.“ Und so kochte die 88-Jährige kiloweise Pellkartoffeln, um die Mägen der Besucher zu füllen. Bier kühlte sie mit nassen Bettlaken und Handtüchern.

In Erinnerung bleiben ihr auch die verdutzen Gesichter, als Hannelore Preu die Besucher zum Bäcker schickte. „Ich sagte ihnen, da bekämen sie Brötchen für fünf Pfennige.“ Für die Gäste aus Niedersachsen unbegreiflich. In der Sankt-Ilsen-Straße, so die Seniorin, bekamen „die Kinder aus dem Westen Baumkuchenabfall“ – sprich die Krümel, die bei der Produktion abfielen. Die wurden den Kindern in Zeitungspapier zu einer Tüte gefaltet kostenlos in die Hände gedrückt. Dieser „DDR-Tourismus“ hielt in den 90er Jahren an, erzählt die 88-Jährige. Unzählige Gäste aus dem In- und Ausland quartierten sich in ihrer Pension ein.

Hannelore Preu kommt mit einer Kapitänsmütze aus einem der Zimmer. „Die ist vom ‚Capitano‘“, sagt sie mit einem breiten Lächeln. Ein Kapitän aus den Niederlanden ließ seine Mütze als Abschiedsgeschenk bei ihr in Salzwedel. Andere Holländer kamen mit ihren Wohnwägen. „Früher waren es die Niederländer, die mit Wohnwagen anreisten – heute sind es die Deutschen.“

Zeugnisse der bewegten Pensionsgeschichte sind in ihren großen Gästebüchern gefangen. Drei große bunte A4-Ordner, gefüllt mit Erinnerungen und Daten. Selbst Bands, von Hannelore Preu stets liebevoll Kapellen genannt, nächtigten nach ihren Auftritten in Salzwedel in ihrer Pension. Da wäre die DDR-Kult-Bluesband „Engerling“, die sich gleich mehrmals in ihrem Gästebuch verewigte.

Oder die bekannte deutsche Punkband „Terrorgruppe“, die sich mit Witz verewigte: „Nach einer wunderschönen Nacht sind wir ‚glücklich‘ aufgewacht. Ein solches Haus voll frohgemut, dass tut dem derbsten Punker gut. Morgen Nacht, da kommen wir wieder, und werden singen ‚schmutzige Lieder.‘“

Daneben Einträge aus den USA, Norwegen und Schweden. Viele verbrachten auch Feiertage wie Weihnachten bei den Preus. Einmal, so die 88-Jährige, sei ihr Sohn mit den Gästen mit nach Norwegen gefahren. „Er hat dort eine Woche Urlaub gemacht.“ Ihre Tochter blieb gleich in Schweden.

Noch heute existiert die Pension am Freibad. Hannelore Preu unterhält sich noch immer gern mit den Gästen aus nah und fern, sitzt noch immer gern in ihrer Küche. Nur hat heute ihr 45-jähriger Sohn den Hut für die Pensionsgäste auf. Die Geschichte der Pension „Tinaro“ wird weiter geschrieben – und in Gästebüchern festgehalten.