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Gerichtsprozess Wenn der Entführer 200-mal klingelt

Eine Gerichtsverhandlung mit zwei Angeklagten aus Schönebeck spitzt sich zu. Weitere Zeugen sagen aus, aber von einer Hauptpersonen fehlt jede Spur.

Von Melanie Dahrendorf 08.07.2018, 11:44

Schönebeck/Magdeburg l Zwei Männer aus Schönebeck müssen sich aktuell vor dem Magdeburger Landgericht verantworten. Auf der Anklageschrift stehen Vorwürfe der räuberischen Erpressung, Bereicherung am Eigentum Dritter, Nötigung und Freiheitsberaubung.

Der Hauptangeklagte stand fast täglich vor der Haustürsdes Opfers Mike R. – über 200 Tage lang. Zusätzlich zwang er sein Opfer, diverse Handyverträge auf seinen Namen abzuschließen. „Höhepunkt“ der Straftaten war eine etwa halbstündige Entführung, bei der das Opfer dazu aufgefordert wurde, sich mit einem Gürtel zu strangulieren. Mike R. behauptete – vermutlich, um seine Entführer abzulenken – dass ein Gürtel reißen würde und hielt sie dazu an, nach einem Messer zu suchen. Ein Messer fanden Benjamin O. und sein vermeintlicher Komplize Adrian B. jedoch nicht.

Die Entführer brachten Mike R. nach dieser erfolglosen Suchaktion zurück zu seiner Wohnung, und warfen ihn aus dem Auto – dort wartete bereits die Polizei, die ein Anwohner gerufen hatte.

Auch am eigentlich letzten Prozesstag war „Warten“ die Devise: Vom Kläger und Opfer Mike R. fehlte jede Spur. „Ich kann ihn nicht erreichen und er selbst hat sich bei mir nicht gemeldet“, sagt der Zeugenbeistand. Die Verhandlung: Wieder verschoben.

Dabei sei nach dem vergangenen Termin einiges passiert, so der Strafverteidiger. Sein Mandant, der Hauptangeklagte Benjamin O., habe eine Vereinbarung seiner Lebensgefährtin mitgebracht, in der niedergeschrieben steht, dass er sich vorbildlich um sein Kind kümmern würde. Auch ein aktueller Arbeitsvertrag würde dem Richter vorliegen.

Trotz dieser Auflistungen, die für den Angeklagten sprechen sollen, ging die Zeugenvernahme weiter.

Die nächste Zeugin, eine Polizistin die bei der Entführung vor Ort war, reagierte zunehmend gereizt auf die Fragen der Richter und Anwälte. Sie habe bei der Anzeigenaufnahme schließlich „nur das Protokoll geschrieben“ und für detailliertere Nachfragen „keine Zeit“ gehabt. Sie erinnerte sich: „Das Opfer wollte erst überhaupt nichts mit der Polizei zu tun haben. Er wirkte vollkommen eingeschüchtert“, so die Beamtin. „Das wird Ihnen jetzt wohl ungemein weitergeholfen haben“, wirft sie ironisch ein, als sie die Nachfragen des Pflichtverteidigers beantwortet hat.

Es kam zu einem kurzen Wortgefecht zwischen Richter und Verteidiger, dann lag das Augenmerk auf Mike R., welcher noch immer nicht erschienen ist. Inzwischen wurde die Verhandlung unterbrochen und wieder aufgenommen. „Wir warten jetzt noch 15 Minuten auf ihn, so Richter Theo Buß.

Die Zwischenzeit wurde genutzt, um Urkunden zu verlesen. Diese beinhalten alle bisherigen Straftaten und die dazugehörigen Urteile. Die Bewährungshelferin des Hauptangeklagten Benjamin O. gab zu Protokoll, dass dieser sich bemüht zeigte, trotz diverser Vorstrafen einen Weg in einen normalen Alltag zu schaffen: „Aus der sozialen Hängematte hat er sich zurück ins Leben gekämpft“, ergänzte sie.

Als die 15 Minuten Wartezeit verstrichen waren, wurde die Verhandlung geschlossen. Der nächste Termin findet in zwei Wochen statt: Dann – so hofft Richter Buß – mit dem Kläger und einem Urteil. „Ohne Mike R. angehört zu haben, wird kein Urteil fallen“, stellte Buß dazu fest.

Mike R. muss für die versäumte Verhandlung 150 Euro Strafe zahlen. Warum er bei der langanhaltenden Erpressung nicht eher die Polizei rief, ist weiterhin unklar.