1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Schönebeck
  6. >
  7. Heimatgeschichte: Wieso die Häuser in Calbe früher anders standen

Heimatgeschichte Wieso die Häuser in Calbe früher anders standen

Um Wärme zu sparen, schauten vor Jahrhunderten die schmalen Giebel zur Straße. In Calbe war der Baustil lange Zeit prägend, wie ein überliefertes Bild aus der Zeit heute noch zeigt.

Von Dieter Steinmetz 23.01.2024, 05:51
Die Ostseite Calbes -  ein Ausschnitt aus einem Merianstich.
Die Ostseite Calbes - ein Ausschnitt aus einem Merianstich. Dieter Steinmetz

Calbe. - Wir „modernen“ Menschen bezeichnen das Mittelalter gern als „dunkel“ oder „finster“. Damit meinen wir oft das vermeintlich einfältige und düstere Denken unserer mittelalterlichen Vorfahren. Wie oft in unserer Begrifflichkeit steckt aber auch noch eine andere alltägliche Bedeutung dahinter. Seit dem Frühmittelalter waren die Menschen beim Häuserbau, der vorwiegend noch ohne Fensterglas auskommen musste, bemüht, der Kälte so wenig wie möglich Angriffsfläche zu bieten. Die Türen und Fenster wurden in der Anzahl stark reduziert. So gewöhnte man sich an die giebelseitige Häuserbauweise, bei der die Schmalseiten der Häuser - also die Giebel - mit der Tür und wenigen Fenstern zur Straße ausgerichtet waren und alle Nachbarhäuser mit ihren Langseiten meist miteinander verbunden waren. Der Vorteil bestand darin, dass die Giebelhäuser sich gegenseitig die wenige Wohnwärme speicherten.

Der Nachteil war, dass die weit in die Tiefe reichenden Baukörper schlecht oder gar nicht belichtet waren. Wärmespeicherung ging also auf Kosten des Lichtes. So lebten die Menschen in ihren spärlich durch Kerzen oder Petroleumlampen beleuchteten Wohnungsteilen ohne Fenster in der Dunkelheit. Da verstehen wir auch, warum einige Handwerksarbeiten und mancher Kleinhandel im Mittelalter noch oft im Freien stattfanden. Außerdem hatte sich in diesem Zeitalter - besonders auch durch die häufig wütenden Pandemien wie Pest, Lepra, Typhus und Cholera - die Auffassung durchgesetzt, dass Licht und Luft für die Menschen gefährlich seien. Auch in Calbe gab es gebildete Männer, die sich vor Wasser, Luft und Sonnenlicht fürchteten.

Die Menschen verschanzten sich regelrecht in ihren Behausungen. Die Abwasser-Entsorgung erfolgte meist an den Giebelseiten durch Fenster und Türen, also an den Straßen, die dadurch extrem stanken und die Luft tatsächlich verpesteten. Die schmalen, 6 bis 8 Meter breiten, aber 15 bis 25 Meter langen Fachwerkhäuser bestanden aus einem skelettartig errichteten Balkengerüst, dessen Zwischenräume mit Lehm, Reisig und Stroh verfüllt wurden und so die Wände bildeten. Diese Häuser waren zwei- bis dreigeschossig, Keller und Dachboden waren auch vorhanden. Im Erdgeschoss gab es eine große Diele, in der die Malz- und Hopfensäcke für das Reihebrauen der reichen Bürger sowie Säcke mit Mehl und Gewürzen, Fässer mit Wein und Bier und Krüge mit Öl und Schmalz standen und manchmal sogar ein kleiner Grundwasserbrunnen zu finden war. Kaufleute oder Grundbesitzer stapelten hier auch ihre verkaufswürdigen Waren. In einer Dielen-Ecke befand sich eine Verkaufsstube, das Kontor.

Kamin nur in Häusern aus Stein

Da es sich bei allen Besitzern der Häuser in der kurzen Bernburger Straße vor der südlichen Stadtmauer um reiche Patrizier mit einem hohen Steueraufkommen handelte, besaßen sie auch das Recht zum sehr einträglichen, reihum angewandten Brauen. Das Haus Bernburger Straße 7 hatte an seiner Nordseite einen noch heute existierenden, etwa 25 Quadratmeter großen Anbau mit einem inzwischen nicht mehr vorhandenen massiven Tor. Solche meist zweigeschossigen Anbauten, die man Kemenaten oder Kemladen nannte, bestanden im Mittelalter aus Stein und nicht aus Lehm und Stroh, weil darin ein Kamin für die Warmhaltung in der kalten Zeit des Jahres errichtet war, was die Stadträte wegen der hohen Brandgefahr in dem hölzernen Fachwerkteil streng verboten hatten. Im Kemladen muss demnach auch der große Ofen für den schweren mannshohen Sud- und Maische-Kessel und der Läuterbottich untergebracht gewesen sein. Das würde auch das große Tor für den Anbau erklären, weil sich die Brauherren den massiven Metallkessel aus finanziellen Gründen beim Reihum-Brauen gegenseitig zuschickten, was wohl eine erhebliche Schinderei für die Knechte und Zugtiere bedeutet hatte.

Kemladen waren sonst meist an der Hinterseite des Langhauses angebracht. Möglicherweise zahlten die Hausherren für das kleine Gebäude neben dem Haupthaus an der Straßenseite auch höhere Steuern, sodass man in der Bernburger Straße 7 das doppelte Braurecht besaß.

Die Einstellung zur alten städtischen Lebensweise änderte sich diametral, als die aufblühenden medizinischen Wissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert bewiesen, dass gerade Licht und Luft sehr wichtig für die Gesundheit der Stadtbewohner sind. Damit wandelte sich auch die städtische Baukultur, wodurch nun eine Hinwendung zum traufenständigen (längsfrontigen) Häuserbau begann. Manche Landesherren setzten in ihren Territorien schon im 16. Jahrhundert eine „Firstschwenkung“ durch, das heißt, sie förderten einen allmählichen Übergang von der giebelständigen zur traufenständigen Bauweise.

In Calbe geschah das nachweislich erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Das Leben in den städtischen Häusern war nun bedeutend gesünder, weil der Schnee nach den langen Wintern der Kleinen Eiszeit besser von den Dächern abrutschen konnte als von den ziehharmonikaförmig aneinander gereihten Satteldächern der Giebelbauweise, bei denen es immer wieder im Frühjahr zu Balkenbruch und Nässe kam, und weil größere Fenster an den Trauffronten mit inzwischen erschwinglichem Glas Licht und Sonnenwärme speichern konnten.

Wohlhabende Familien hatten die großen Häuser

Das Bild von der Südost-Ansicht der Stadt Calbe an der Saale ist ein Ausschnitt aus dem bekannten, 1653 entstandenen Kupferstich von Caspar Merian. Der Künstler hatte sich die südöstliche Ansicht der im Dreißigjährigen Krieg schwer geschädigten Tuchmacher-Stadt Calbe ausgesucht, weil die Nordseite durch die Kanonaden und Brandschatzungen der Kaiserlichen und Ligisten nicht mehr so beschaulich aussah.

Eines der dort abgebildeten giebelständigen Häuser mit seinem Anbau ist erfreulicherweise bis heute erhalten geblieben, das markante Doppel-Gebäude in der „Bärenburgischen“ oder (wie sie heute heißt:) Bernburger Straße 7. Das etwa 15 Meter lange und 10 Meter breite Haupthaus, das einst im Mittelalter ein Fachwerkbau gewesen war, gehörte laut Häuserbuch der Stadt Calbe von Adolf Reccius im 16. Jahrhundert einem hohen landesherrlichen Beamten von der Burg Falkenstein und zu Beginn des 17. Jahrhunderts der bedeutenden calbischen Bürgermeister-Familie Wilcke.

Die für Calbe fast noch bedeutendere Patrizier-Familie Lemmer, über die wir schon mehrmals berichtet hatten, wohnte darin im 17. Jahrhundert, also auch zur Zeit der Entstehung des Merian-Bildes. Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert, als Calbe ebenfalls mehr mit traufständigen Häuserfronten ausgestattet wurde, wohnten Ratsherren-Familien in der Bernburger Straße 7, zum Beispiel die Steinhausens. Vielleicht ist es ihnen oder danach der Pfarrersfamilie Davidis zu verdanken, dass ihr Haus keine „Firstschwenkung“ mitmachen musste. Aber das wenig brandsichere Fachwerk hatte einem Ziegel-Mauerwerk zu weichen. Zur baulichen und finanziellen Erleichterung wurde der einstige Stufengiebel wenigstens durch eine Markierung mittels dunkler Ziegelsteine am neuen Dreiecksdachgiebel angedeutet.

Wer waren die „Who is who“?

Die auf dem Bild dargestellten Giebelhäuser in der Bernburger Straße 1 bis 9 gehörten damals durchweg reichen Patriziern und waren dementsprechend so genannte Brauhäuser. Die Namen der elf Besitzerfamilien lesen sich wie ein „Who is who“ der frühneuzeitlichen Eliten Calbes. Die Brandts, Dörings, Büngers, Röseners, Belaus und anderen Männer aus der Oberschicht bestimmten bis ins 19. Jahrhundert maßgeblich die Geschicke der Stadt Calbe. Einige der Häuser in der Bernburger Straße sind auch in ihrer traufständigen Form ganz verschwunden. Gassen erinnerten früher noch an die einst bekannten Stadt-Größen. Belaus Winkel ist heute die Kuhgasse und Röseners Gasse ist heute die Lampengasse.

Dass die südliche Stadtmauer eine dellenförmige Scharte durch einen Kanonenschuss abbekommen hatte, die bis in die Gegenwart noch zu sehen war, hat Merian in dem Kupferstich auch dokumentiert. Im Bildausschnitt sieht man das auf der linken Seite zwischen den zwei Torbogen einer Zwingeranlage des so genannten Bernburger Stadttores. Entlang der nicht mehr ganz intakten südlichen Stadtmauer wurde 1695 die „Neustadt“ errichtet, die der neuen Straße den Namen gab.

Das war eine zwar vor der Stadtmauer liegende Siedlung, die aber trotzdem zur Stadtbürgerschaft gehören sollte. Die dörfliche Bernburger Vorstadt begann dann also erst hinter der Neustadt-Siedlung.