Interview zum Kindeswohl Immer mehr Kinder im Salzlandkreis in Gefahr?
Unbeschwert in einer glücklichen Familie aufwachsen: Diese Chance haben nicht alle Kinder. Die Kindswohlgefährdung im Salzlandkreis nimmt zu. Im Interview mit Volksstimme-Chefreportein Sabine Lindenau und Kreissprecher Marko Jeschor spricht Josephin Rosinski über Gründe und Voraussetzungen für Pflegefamilien.

Schon 88 Kinder mussten in diesem Jahr in Obhut genommen werden. Die Kindeswohlgefährdung nimmt zu. Josephin Rosinski, Fachdienstleiterin Jugend und Familie beim Salzlandkreis, kennt Ursachen. Und diese können nicht gerade zuversichtlich stimmen...
Volksstimme: Frau Rosinski, Sie informieren als Fachdienstleiterin im Jugendhilfeausschuss regelmäßig über die Arbeit des Jugendamts. Warum?
Josephin Rosinski: Der Salzlandkreis ist öffentlicher Träger der örtlichen Jugendhilfe. Das bedeutet, der Fachdienst Jugend und Familie unterstützt die allgemeine Jugendarbeit im Salzlandkreis; das beginnt bei der Unterstützung über das Bundeselterngeld, geht über den Kita-Bereich bis hin zur Unterstützung unserer Jugendclubs in der Region. Wir sind allerdings auch zur Stelle, wenn das Kindswohl gefährdet ist. Dann müssen die Kolleginnen und Kollegen die Frage klären, wie wir den Familien und damit auch den Kindern helfen können. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten und Angebote – von ambulanter bis hin zu stationärer Hilfe. Besonders wichtig bei der stationären Hilfe sind seit einigen Jahren Pflegefamilien. Sie unterstützen, wenn wir feststellen, dass die Kinder nicht mehr länger in ihren Familien bleiben können.
Von wie vielen Kindern in Pflegefamilien sprechen wir?
Es ist uns dank unserer strategischen Neuausrichtung innerhalb des Fachdienstes Jugend und Familie mittlerweile gelungen, für Kinder zwischen null und sechs Jahren eine Pflegefamilie zu finden, bei denen die Sorgeberechtigten zugestimmt haben. Wir reden dabei von 281 Kindern im Salzlandkreis. Ich möchte mich an dieser Stelle bei allen Pflegefamilien bedanken. Sie leisten alle eine großartige, unverzichtbare Arbeit.Warum sind Pflegefamilien so wichtig?
Zunächst einmal: In der sogenannten vollstationären Hilfe zur Erziehung, viele sagen dazu Kinderheime, wird täglich ebenfalls großartige Arbeit von den Fachkräften geleistet. Nur können sie bei allem Engagement eben keine Familie ersetzen. Kinder können sich am besten in einem Zuhause entwickeln, in dem sie sich wohlfühlen, weil sie geliebt und aufgefangen werden. Die Pflegeeltern geben den Kindern das, was ihnen bislang nicht oder zu wenig erhalten haben: positive Impulse.
Von dieser Form der Hilfe profitieren übrigens nicht nur die Pflegekinder und Familien, sondern auch die Allgemeinheit, denn die Kosten für eine Unterbringung und Pflege in einem Kinderheim sind deutlich höher.
Wie groß ist das Problem von Kindswohlgefährdung im Salzlandkreis?
Dazu muss man zunächst wissen: Die Kinder, um die wir uns im Jugendamt kümmern, wachsen zumeist in schwierigen Verhältnissen auf. Die Eltern haben gewisse Einschränkungen, oft keinen Schulabschluss und auch keinen Job. Sie leben am Existenzminimum. Manche Kinder werden vernachlässigt, manche erfahren körperliche, seelische oder auch sexuelle Gewalt. Manche Kinder kommen mit einer Behinderung zur Welt, weil die Mutter etwa während der Schwangerschaft Drogen genommen hat.
Wir haben es mittlerweile mit vielen Familien zu tun, die diese Probleme über Generationen weitergeben. Hinzu kommt im Vergleich zu Großstädten wie Magdeburg oder Halle, dass die Lebenshaltungskosten bei uns günstiger sind. Es ziehen also auch Familien zu uns, bei denen wir leider früher oder später vor der Tür stehen müssen.
Wie oft müssen Sie Kinder vor ihren eigenen Familien beschützen?
Leider viel zu oft. Im vergangenen Jahr hatten wir 124 Inobhutnahmen, aktuell sind es bereits 88. Das hat sicherlich auch mit der Corona-Pandemie zu tun, die viel von Familien abverlangt und einige vielleicht auch überfordert hat. Das Problem ist, dass wir derzeit leider nur zwei Bereitschaftspflegefamilien im Salzlandkreis haben. Wir suchen deshalb dringend weitere Familien, die zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit sind, ein fremdes Kind nach einer Inobhutnahme vorübergehend aufzunehmen.Wann werden Kinder aus ihren ursprünglichen Familien genommen?
Ziel ist immer, das Kind so lange wie möglich in der gewohnten Umgebung aufwachsen zu lassen. Das ist zunächst einmal die Familie, die wir bei den täglichen Herausforderungen eng begleiten. Wenn jedoch eine aus unserer Sicht akute Gefährdung des Kindeswohls vorliegt oder die sogenannten Hilfen zur Erziehung keinen Erfolg bringen, dann müssen wir zu diesem letzten Mittel greifen. Ich sage immer: Wir treten immer dann in Erscheinung, wenn alle anderen Hilfen nicht den erhofften Erfolg gebracht haben.Sie sprachen eingangs die Neuausrichtung im Jugendamt an. Können Sie die näher erklären?
Wir arbeiten seit rund zwei Jahren im Kinderpflegedienst nach einem speziellen Konzept, das wir uns selbst gegeben haben. Dieses Konzept stellt die Pflege der häufig stark vorbelasteten Kinder in Pflegefamilien in den Mittelpunkt. Zudem haben wir uns in der Verwaltung strukturell neu aufgestellt. Damit können wir deutlich effektiver unsere Arbeit erledigen. Wir haben Rahmenbedingungen geschaffen, die es Interessierten erleichtern soll, sich für ein Pflegekind zu entscheiden. Daneben arbeiten weitere Fachdienste der Kreisverwaltung gemeinsam mit ihren jeweiligen Partnern daran, die Familien im Salzlandkreis insgesamt zu stärken. Ziel ist, dass wir weniger oft eingreifen müssen. Welche Rahmenbedingungen wären das konkret?
Je nach Alter des Pflegekindes zahlen wir einen Grundbetrag für den Lebensunterhalt des Kindes sowie einen Erziehungsbetrag. Anders als andere Regionen im Land unterstützen wir auch bei der Elternzeit mit Elterngeld, sofern der Wunsch der Familie danach besteht. Wir gewähren daneben auch eine Vielzahl von einmaligen Beihilfen, um einen reibungslosen Start zu ermöglichen. Das Geld darf bei Interessierten aber keine Motivation sein.
Derzeit bauen wir auch das Netzwerk gemeinsam mit den Pflegeeltern-Vereinen auf. Wir wollen, dass sich die Pflegeeltern untereinander kennenlernen und sich auch regelmäßig über ihre Erfahrungen austauschen. Ein regelmäßiges Forum dafür gab es bisher nicht. Das wollen wir aber aufbauen. Daneben intensivieren wir den Austausch mit dem Landesverband für Pflege- und Adoptiveltern. Mein Anspruch ist: Wir müssen gute Rahmenbedingungen schaffen.
Damit erhöht sich die Chance, dass sich die Pflegekinder dank des Engagements später auch in die Gesellschaft einbringen können – beruflich wie privat. Dann zahlen sich die Investitionen für die Region im Sinne der Zukunftsstrategie Salzlandkreis 2030 wieder aus.Gibt es denn genug Pflegefamilien?
Wir erleben, dass das Konzept greift, denn immer mehr Familien sind bereit, ein Pflegekind aufzunehmen. Wir wollen jedoch weitere Interessierte ansprechen, denn unser Ziel ist es, so viele Pflegefamilien als Unterstützung zu gewinnen, dass alle Kinder mit Hilfebedarf bis zum zehnten Lebensjahr in einer Pflegefamilie den Halt finden, den sie benötigen.Wie sieht eine typische Pflegefamilie aus? Sind es kinderlose Paare oder die klassische Zwei-Kind-Familie, die noch den Wunsch verspürt, Gutes zu tun?
Häufig sind es nahe Verwandte, die sich ganz fürsorglich kümmern. Ansonsten arbeiten wir häufig mit Pflegefamilien zusammen, die ganz unterschiedliche Gründe haben. Das können Paare mit Kindern sein, aber auch Singles und Paare in gleichgeschlechtlicher Ehe. Sie alle eint der Wunsch, etwas Gutes zu tun. Nämlich einem Kind die Chance auf ein unbesorgtes Leben zu geben, in dem es sich soweit wie möglich selbst verwirklichen kann.
Wer selbst Kinder hat, weiß, wie erfüllend das ist. Wie lange bleiben die Kinder in den Pflegefamilien?
Das hängt vom Einzelfall ab. In der Bereitschaftspflege halten sich die Kinder zumeist nur kurz in den Familien auf. Ansonsten gehen Pflegekind und Pflegefamilie durchaus eine längere Beziehung miteinander ein. Das kann bis zu einer Adoption sein. Wissen Interessierte um die schwierige Vergangenheit der Kinder?
Natürlich informieren wir darüber im Rahmen der Gespräche. Wir sagen dabei auch deutlich, dass neben der normalen Erziehung noch zusätzliche Herausforderungen aufgrund der Vorgeschichte der Pflegekinder zu erwarten sind. Unsere Erfahrung ist: Solange die Kinder kleiner sind, funktioniert es überwiegend gut. Je älter sie werden, desto größer können die Schwierigkeiten werden. Das muss die Pflegefamilie berücksichtigen. Aber auch in dieser Phase unterstützen wir vom Fachdienst mit Beratungen. Wir vermitteln auch Kontakt zu freien Trägern der Jugendhilfe.Welche Voraussetzung müssen Interessierte mitbringen?
Sie müssen einen Kurs für Pflegeeltern beim zuständigen Fachzentrum Pflegekinderwesen Sachsen-Anhalt absolvieren, der von der Stiftung evangelische Jugendhilfe Bernburg angeboten wird. Die Gebühren für die zwei Wochenendseminare übernehmen wir selbstverständlich. Wer kommt grundsätzlich in Frage?
Jeder kann sich bei uns bewerben. Wir prüfen eingehend, ob die Interessierten wirklich bereit dafür sind, Verantwortung zu übernehmen und ob sie ein geregeltes Einkommen sowie genügend Platz für ein Kind haben. Die Pflegeeltern müssen sich nicht nur um das Kindeswohl kümmern, sondern auch weiterhin mit uns vom Jugendamt und unter Umständen auch mit der Herkunftsfamilie zusammenarbeiten. Ausgeschlossen sind Interessierte, die Vorstrafen haben, drogenabhängig sind oder staatsfeindliche Ansichten vertreten. Endet mit der Übergabe des Pflegekindes die Arbeit des Jugendamts?
Natürlich nicht. Wir stehen jederzeit als Ansprechpartner und Vermittler für das Pflegekind beziehungsweise die Pflegefamilie zur Verfügung. Niemand muss sich allein gelassen fühlen.