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Denken ohne Geländer In der Katharinenkirche in Stendal gelingt ein kleiner Triumph über den Wahnsinn

Roman Knižka und Opus 45 erinnern mit einer Lesung in Stendal an Menschen aus dem Ghetto Theresienstadt.

Von Edda Gehrmann 24.01.2024, 15:12
Roman Knižka bei seinem Auftritt zur musikalischen Lesung „Ich wand’re durch Theresienstadt“ in der Katharinenkirche in Stendal.
Roman Knižka bei seinem Auftritt zur musikalischen Lesung „Ich wand’re durch Theresienstadt“ in der Katharinenkirche in Stendal. Foto: Edda Gehrmann

Stendal - Bewegend. Dieses Wort ist häufig am Sonntag, 21. Januar, in der Stendaler Katharinenkirche gefallen. Mit der musikalischen Lesung „Ich wand’re durch Theresienstadt“ erinnerten TV-Star Roman Knižka, das Bläserquintett Opus 45 und Mezzosopranistin Pia Liebhäuser an Menschen aus dem Ghetto Theresienstadt. Ein Abend im Rahmen der Reihe „Denken ohne Geländer“, der im Gedächtnis bleibt.

23. September 1943: Premiere der Kinderoper „Brundibár“ von Hans Krása in Theresienstadt. Eine Katze, ein Vogel und ein Hund vertreiben mit Hilfe einer Gruppe Kinder den fiesen Drehorgelmann Brundibár. Die Inhaftierten sehen in dieser Figur Hitler verkörpert. Der damals 14-jährige Rudolf Laub hat seine Erinnerungen an die Premiere aufgeschrieben. Roman Knižka leiht ihm in der Katharinenkirche seine Stimme, schildert mit jugendlicher Begeisterung das Lampenfieber, den donnernden Applaus, das Glück des Gelingens. Sieg über Brundibár! Der Schauspieler schleudert die Worte des Jungen freudig heraus, springt hoch in die Luft. Nach einer kurzen Pause senkt er die Stimme: „Rudolf Laub wurde knapp drei Monate nach der Premiere ins Vernichtungslager nach Auschwitz deportiert, auch der Darsteller des Brundibár sowie die meisten der Kinder und Jugendlichen, die an der Oper mitgewirkt hatten.“

Theresienstadt wird zum Gefängnis

Von 1941 bis 1945 wurde das von der SS errichtete Lager Theresienstadt im böhmischen Terezín zum Gefängnis für 150.000 Jüdinnen und Juden. Jeder Vierte von ihnen starb dort. Von den fast 15.000 Kindern, die nach Theresienstadt kamen, überlebten nur 132. Für Unzählige war es die letzte Station vor der Ermordung in Vernichtungslagern wie Auschwitz-Birkenau. Katastrophale Lebensbedingungen, ständige Todesangst – und dennoch: Kunst und Kultur. Für die jüdischen Inhaftierten ist es eine Frage der Selbstbehauptung und Würde. Und ein Gebot der Fürsorge, um die Kinder nicht verzweifeln und die Hoffnung verlieren zu lassen. „Die Brundibár-Vorstellungen bedeuteten für uns einen süßen kleinen Triumph über den Wahnsinn“, zitiert Roman Knižka aus einem Zeitzeugenbericht.

Dass Theresienstadt trotz dieser Fluchten ein Ort des Grauens war, daran lassen die Künstler keinen Zweifel aufkommen. Erschauern lässt unter anderem der Bericht über 1.260 Kinder aus Białystok, die nach ihrer Ankunft panisch den Gang ins Bad verweigerten. Ihre Eltern hatten sie gewarnt: Baden bedeutet den Tod, aus den Brausen käme kein Wasser, sondern… Roman Knižka muss das Wort nicht aussprechen. Sechs Wochen später werden die Kinder aus Białystok nach Auschwitz deportiert und sofort nach ihrer Ankunft… Wieder Schweigen, wieder füllt jeder im Publikum die Leerstelle selbst im Stillen.

Ensemble stellt sich in den Dienst der Juden

In den Gedichten und Texten von Kindern und Jugendlichen und in der Lyrik der Autorin Ilse Weber, die Roman Knižka rezitiert, spiegeln sich Hoffnung und Stolz, Angst und Verzweiflung, Ratlosigkeit, Trauer, Sehnsucht nach Freiheit und Menschlichkeit inmitten der denkbar unmenschlichsten Verhältnisse. Das gesamte Ensemble stellt sich in den Dienst dieser Jüdinnen und Juden, die Zeugnisse ihres Lebens im Ghetto Theresienstadt hinterlassen haben. Roman Knižka berührt mit Feingefühl für die jeweils angemessene Stimmung. Das Bläserquintett Opus 45 und Mezzosopranistin Pia Liebhäuser vom Opernhaus Stuttgart (ihre Mitwirkung war eine Premiere) entreißen virtuos Werke der in Theresienstadt inhaftierten und von den Nationalsozialisten ermordeten Komponisten Pavel Haas, Hans Krása, Viktor Ullmann, Gideon Klein und Carlo Sigmund Taube dem Vergessen.

Die Erinnerungen und Schicksale der in Theresienstadt Gefangenen fordern eindringlich dazu auf, die um sich greifende Menschenfeindlichkeit in Deutschland nicht hinzunehmen. Die offizielle Gedenkveranstaltung in der Hansestadt Stendal zum Tag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar um 10 Uhr ist „ein guter Anlass, noch einmal gemeinsam Gesicht zu zeigen“, gab Cornelia Habisch von der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt dem Publikum mit auf den Weg. Die Bildungseinrichtung veranstaltete den Abend mit Roman Knižka und Opus 45. Zum Gedenken am Sonnabend wird die Zeitzeugin Henriette Kretz in der Katharinenkirche erwartet. Sie wurde 1934 als Jüdin in Polen geboren, überlebte das Ghetto Sambor bei Lemberg und versteckte sich bis Kriegsende an verschiedenen Orten vor dem NS-Terror.