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Stadtgeschichte Eine Zeitreise nach Tangermünde

Wie ein Spaziergang durch das Tangermünde vor knapp 40 Jahren aussah.

Von Rudi-Michael Wienecke 03.08.2020, 09:00

Tangermünde l Der Tangermünder Torsten Ladwig sammelt alles, was an die untergegangene DDR erinnert. Entsprechend groß ist sein Fundus an Lektüre aus der Zeit. Darunter befinden sich auch mehrere Exemplare von „Das Magazin“. Diese Monatszeitschrift, mit dem Schwerpunkt Kultur und Lebensart, gehörte einst zu den heiß begehrten „Bückwaren“. Grund waren in erster Linie die erotischen Fotos, aber auch die unpolitischen Inhalte machten „Das Magazin“ populär.

Das Heft 9 aus dem Jahr 1982 widmet sich auf sechs Seiten Tangermünde. Der Journalist Fritz-Jochen Kopka und der Fotograf Christian Brachwitz besuchten die Stadt und hinterließen nach ihrem Spaziergang durch sie einen ungeschönten Bericht über das Leben an der Elbe. Sie berichteten über die Infrastruktur, die Industrie, die Menschen. Viele ältere Tangermünder dürften ihre Heimat von einst wiedererkennen. Aber auch für Jüngere liefert dieses Porträt Aha-Effekte, denn vieles hat sich nicht verändert. Kopka schrieb:

Die Stadt liegt an einem großen Fluss und an einer Nebenlinie der Eisenbahn. An den Eingängen stellt sie sich als tausendjährige Kaiserstadt vor, aber etwas Großes ist in den Jahrhunderten nicht aus ihr geworden... Geblieben von den alten Zeiten sind drei Kilometer Stadtmauer, Tore und Türme, Kirchen, Burg- und Klosterreste, Bürgerhäuser in Fachwerkbau, das Fragment eines spätgotischen Rathauses und (…) Legenden.

Heute hat die Stadt 12.000 Einwohner, viele Gärten, fünf Betriebe von überregionaler Bedeutung, eine Schiffsgaststätte... Die Stadt heißt Tangermünde.

Am Morgen ist die rote Kleinbahn von Stendal nach Tangermünde voller Pendler... 8200 Arbeitskräfte werden in Tangermünde gebraucht, mehr als die Stadt aufbieten kann. So pendeln täglich 1200 Menschen ein... Sie verteilen sich auf ihre Betriebe: Faser- und Spanplattenwerk, Konsum-Schokloladenbetrieb, Leimfabrik, Krankenhaus. Das Platterwerk stellt 23 Prozent der in der Möbelindustrie der DDR benötigten Platten her, hört man vom Bürgermeister (damals Karl Koglin). Der Schokoladenbetrieb produziert die bekannte Marke „Juwel“ und die sogenannte Naschbox. Die Betriebe verhindern, dass es hier allzu kleinstädtisch wird, sagt man im Stadthaus.

...Viele Häuser sind drei Jahrhunderte alt und wirken, als erlebten sie gerade ihre besten Tage. Wo noch sind die vergangenen Zeiten so anwesend im Neuen?

...Die Litfaßsäulen in der Kleinstadt beklebt nicht die Stadtverwaltung, sondern die Republik. Alles ist überregional: Tele-Lotto-Sonderziehung, Kasko-Versicherung, Palast der Republik. Am nächsten kommt der Stadt noch das Theater der Altmark Stendal.

Für die städtischen Mitteilungen sind Sichtkästen und Schaufenster bestimmt. Sporttauben, Rassegeflügel, Angler. Die Ruderer werden zur Versammlung gerufen: „Auch auf die Kassierung der Beiträge ist der Sportfreund Schütte eingestellt...“

...Man geht zur Elbe hinunter durch ein altes Tor, man findet eine Bank, hat die mächtige Mauer im Rücken, das breite Wasser vor Augen, man löst sich von allem, geht auf alten Treppenstufen zum stillen Burgplatz hinauf und hat keine Sehnsucht nach großen Städten und Größe überhaupt...

„Burg-Kaffee“ steht in großen Buchstaben an der Fassade... In einer Nische feiern Frauen. Eine Leitungspersönlichkeit hat eine Rede gehalten und Prämien verteilt, nun sitzt er als Mann erschöpft am Rande... In Abständen elektrisiert schrilles Gelächter vom Frauentisch das Lokal. Ein Herr bittet sich Ruhe aus, kann aber sein Interesse an der munteren Gemeinschaft des anderen Geschlechts nur schlecht verhehlen...

Was tut man am Sonnabendvormittag in Tangermünde? Zum Bäcker gehen, zum Fleischer. Auch das Kaufhaus hat geöffnet... Der Sportlehrer übt mit den Kindern Tiefstart und Staffellauf... Die Heimatkundelehrerin führt ihre Klasse durch eine Kleingartenanlage und fragt nach den Namen von Blumen, Pflanzen, Bäumen... In der Bahnhofshalle spielen Jungen Fußball mit Kronenkorken. Frauen liegen im Fenster und warten auf Gesprächspartnerinnen und Vorfälle. Man fegt Straße, Betonmischer drehen sich. Schüler verlassen die Schule... Ein Achtjähriger bekennt seinem Spielkameraden: „Mein Vater ist ein Sachse.“

...Ein Kleinstadtereignis ist der Wettbewerb „Bester Athlet der Altmark“. Wer seinen Eintritt bezahlt, bekommt statt Karte mit dem Filsstift einen lila Strich auf die Handfläche gemalt... Die Athleten kommen aus Städten und Dörfern der Altmark, ein Sportfreund vertritt die Stadt Tangermünde. Ein in Stendal tätiger Kubaner ist dabei. Lieber Himmel, wie, wenn ein Kubaner bester Athlet der Altmark wird, werden das die heimatliebenden Menschen hier verwinden?

...Am Sonntag sind wir zu den Enden Tangermündes gegangen. Aus dem Südende kamen uns Angler entgegen. Wir gingen an der Molkerei vorbei, am schönen Gebäude der Mühlenwerke. Die Stadt erschöpft sich einfamilienhausweise.

Am anderen Ende, nach der industriellen Eskalation von Spanplattenwerk und Leimfabrik, trafen wir vollständig überraschend auf die Gaststätte „Zum Forsthaus“. Ein Ort, wie von der Zeit vergessen... Die Sonne schien und es gab keine schönere Stadt auf der Welt.