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Tradition Gezerre um Industrieruinen

Fast 30 Jahre wollte keiner die Tangerhütter Gießereihallen - jetzt gibt es Unmut um den Verkauf.

Von Bernd-Volker Brahms 22.11.2019, 00:01

Tangerhütte l Die historischen Industriehallen in Tangerhütte könnten bald saniert werden. Seit geraumer Zeit gibt es zwei Nutzungs- und Finanzierungsideen. Der Stadtrat hat dem Verkauf des Areals an zwei Tangerhütter Investoren in der vergangenen Woche bereits zugestimmt. Es ist strittig, ob der Beschluss ordnungsgemäß zustande gekommen ist. Bürgermeister Andreas Brohm (parteilos) hat jedenfalls Widerspruch eingelegt.

Falk Mainzer (30) und Denis Jäger (48) sind echte Tangerhütter Originale. Sie arbeiten in der Traditionsgießerei „TechnoGuss“ und haben nebenher bereits neun verschiedene historische Gebäude in der Stadt kernsaniert und wieder nutzbar gemacht. Schon seit Ende 2018 versuchen sie als Jäger & Mainzer Vermietungs GbR Gewerbeflächen – nun auch die mehr als 120 Jahre alten, mittlerweile verfallenen Gießereihallen – von der Stadt als Eigentümer zu übernehmen. In der Vorwoche stimmte der Stadtrat formal zu – allerdings ist unklar, ob der Verkaufsbeschluss Bestand hat.

Der Plan der Investoren: Sie wollen das Areal mit 11 800 Quadratmetern für einen Euro kaufen und zunächst einmal beräumen. In einem zweiten Schritt wollen sie Dächer und Photovoltaikanlagen installieren. Außerdem wollen sie die Halle an die TechnoGuss vermieten. Das Unternehmen, bei dem rund 150 Mitarbeiter beschäftigt sind, benötigt dringend den Platz, um Gussmodelle unterzubringen. Der Geschäftsführer drückt aufs Tempo. Wenn sich nicht bald eine Lösung abzeichnet, wolle er anderweitig Räume suchen, Auswirkungen auf die Belegschaft werden befürchtet.

Nach langem Stillstand war Bewegung in die Sache gekommen. Kurzfristig wurde das Kaufansinnen auf die Tagesordnung des Tangerhütter Stadtrates gesetzt. Mehrheitlich stimmten die Mitglieder in nichtöffentlicher Sitzung für den Verkauf des historischen Areals. Es gab 15-Ja und acht Nein-Stimmen sowie drei Enthaltungen.

Doch damit ist noch nicht alles gut: Bürgermeister Andreas Brohm (parteilos) kündigte an, dass er Widerspruch gegen den Verkauf einlegen werde. Es sei nicht die korrekte Beratungsfolge – erst Ortschaftsrat und Ausschüsse und dann Stadtrat – eingehalten worden, sagt er. Die Fraktion „WG Zukunft“ hatte darauf gedrängt, den Verkauf auf die Tagesordnung des Stadtrates zu setzen, nachdem der Bürgermeister dieses zuvor nicht getan hatte.

Seit Ende vergangenen Jahres hatten Mainzer/Jäger Kaufinteresse für verschiedene Grundstücke signalisiert. Als sie Anfang 2019 einen Kaufantrag für die „alte Dreherei“ auf dem Areal der historischen Industriehallen stellten, gab es ein mündliches Gespräch mit Bürgermeister Andreas Brohm, der ihnen erklärt habe, es gäbe andere Pläne für das Areal – welche blieb offen. Eine schriftliche Eingangsbestätigung oder eine Ablehnung ihrer Anträge habe es nie gegeben, berichten die Investoren.

Ende August stellten sie einen weiteren Kaufantrag, diesmal für die gesamte Fläche der Industriehallen. Sie legten auch eine denkmalrechtliche Stellungnahme vor, die ihre Idee befürwortete. Geplant ist, mit rund einer Million Euro und einem Partner für Photovoltaik die Mehrschiffigkeit der alten Hallen und noch bestehende Mauern samt Schmuckfassade in der Industriestraße zu sanieren, historische Fenster in der Gießerei nachzufertigen, neue Dächer mit Photovoltaik aufzusetzen und die Hallen mit rund 6000  Quadratmetern als Lager zu vermieten.

In einem zweiten Gespräch soll Brohm deutlich gemacht haben, dass er das Vorhaben, die Hallen zu sanieren und dann an TechnoGuss zu vermieten, nicht unterstütze. Im Gegenteil: Mit der Idee der beiden, diese Hallen zu vermieten, soll er selbst ein Angebot als Kommune an das Unternehmen unterbreitet haben.

Das und den Umgang mit den Kaufinteressenten und Kaufanträgen wollte Brohm auf Volksstimme-Nachfrage so nicht bestätigen, er wies die Vorwürfe aber auch nicht zurück. Er spricht von Sorgfalt und Weitsicht im Umgang mit dem kulturellen Erbe der Stadt. „Hinzu kommt, dass die Stadt aus meiner Sicht nichts zu verschenken hat“, sagt Brohm.

Die Stadträte hatten in ihrer Stadtratsvorlage zu ihrer Überraschung gleich drei Übernahmeanträge für die Industriehallen von der Verwaltung vorgelegt bekommen. Neben dem Kaufinteresse von Jäger/Mainzer wurde auch der Verein „Aus einem Guss“ aufgeführt, der jedoch nie selbst einen Kaufantrag abgegeben hatte, wie auch der Vorsitzende Frank Dreihaupt, der im Stadtrat als Fraktionsvorsitzender der UWG Südliche Altmark sitzt, noch einmal erläuterte. Zwei andere Stadträte hatten im Februar einen entsprechenden Antrag gestellt, damit es in der Sache vorangehe.

Das dritte Angebot nun war für viele Stadträte gänzlich neu. Es wurde bezeichnet als „Mietangebot der Firma Salvia Group“, welche der Einheitsgemeinde Tangerhütte angeboten habe, den Eigenmittelanteil für einen Ausbau der Hallen für die Kommune zu übernehmen. Die mit sechs Millionen Euro kalkulierte Sanierung solle dann aus bis zu 90 Prozent Fördergeld gestemmt werden. Die Hallen sollen langfristig als Schulungsobjekt gemietet werden und im Besitz der Stadt bleiben.

Letzteres Angebot hat der Bürgermeister nach Volksstimme-Informationen seit Mitte September auf dem Schreibtisch liegen. Es handelt sich dabei um das Angebot einer Firmengruppe, zu der auch eine größere Tangerhütter Firma gehört. Der Geschäftsführer, der zum Zeitpunkt des Antrags noch selbst Stadtratsmitglied und auch Mitglied des Vereins „Aus einem Guss“ war und jetzt in einem emotionalen Brief an den Stadtrat appelliert, das Areal nicht zu verkaufen, möchte seinen Namen nicht gerne in der Zeitung lesen. Er erläutert das Vorhaben aber gerne.

Demnach soll die Sanierung des historischen Gebäudes ohne Innenausstattung etwa sechs Millionen Euro kosten. Für den Neubau eines angedachten Bildungszentrums müsste das Unternehmen rund 1,8 Millionen Euro investieren, so der Tangerhütter Unternehmer. Man habe sich nun darauf verständigt, dass die Firmengruppe 600 000 Euro an den Verein „Aus einem Guss“ bezahlt, der dies dann wiederum an die Stadt weiterreicht, damit diese den zehnprozentigen Anteil an den Sanierungskosten dafür bezahlen kann. Damit hätte die Stadt keine Kosten an dem Projekt, heißt es.

Die 600 000 Euro seien ihm in der Vereinssitzung in dieser Woche mündlich zugesagt worden und zwar aus einem mit dem Mietantragsteller über dieselbe Unternehmensgruppe verbundenen Geldgeber, wie Dreihaupt bestätigt. Im Übrigen ist auch Dreihaupt nicht mit der Stadtratsentscheidung zum Verkauf an Mainzer/Jäger einverstanden. Das Angebot der Salvia Group wurde im Stadtrat nicht mehr behandelt, da im vorherigen Tagesordnungspunkt der Verkauf beschlossen worden war und Dreihaupt nach eigenen Aussagen das Mietangebot zurückzog.

Der Verein „Aus einem Guss“ hatte sich 2015 nach jahrelanger Ruhephase wiederbelebt, um ein Konzept für die Industriehallen anzuschieben. Über das Modellprojekt „Landaufschwung“ war 2016/2017 mit 40 000 Euro an Fördermitteln eine Studie erarbeitet worden, die eine Bürgergenossenschaft und die Komplettsanierung der Industriehallen für rund sechs Millionen Euro als künftige Veranstaltungshalle (1200 Personen), Museum, Messeraum und Gewerbeeinheiten anvisierte. Als im April 2018 im Stadtrat ein Grundsatzbeschluss zur Unterstützung des Vereins vertagt worden war, herrschte große Verärgerung. Ein Jahr später sagte Bürgermeister Brohm im Stadtrat, „das Thema ist aus meiner Sicht durch“.

Das Areal, das seit fast 30 Jahren verfällt, ist mit jeder Menge Schutt und Industrieüberbleibseln, Sondermüll und kontaminiertem Boden versehen, allein die Entsorgung wird den offiziellen Kaufpreis von einem Euro auf rund 30 Euro pro Quadratmeter hochtreiben, sagt Denis Jäger. Ortsüblich seien sechs Euro pro Quadratmeter.

Unabhängig von der Kaufsumme hat Mainzer das Gefühl, dass die Stadt offenbar gar nicht verkaufen will. Für die alte Dreherei hatten die Investoren Anfang des Jahres noch 13 800 Euro geboten, so wie dies in einem 18 Jahre alten Verkehrswertgutachten (als es dort noch Maschinen, Heizung und Versorgungsmedien gab) vermerkt war.

Den Eindruck, dass gar nicht verkauft werden sollte, hat auch Stadtrat Michael Nagler (WG Zukunft), der sich für die beiden Investoren stark macht. „Der Bürgermeister ist nicht der Entscheider, sondern der Stadtrat. Dass es Kaufinteressenten gibt, wissen wir oft gar nicht“, ärgert sich Nagler und er kritisiert auch die Widersprüche aufgrund der nicht eingehaltenen Beratungsfolge (Ortschaftsrat und Ausschüsse) vor dem Stadtratsbeschluss: „Für die rechtlich korrekte Vorbereitung solcher Beschlüsse ist die Verwaltung zuständig!“

Aus seiner Sicht gehe das Risiko des Verkaufs für die Kommune gegen Null, denn auch wenn die Käufer das Vorhaben nicht wie geplant umsetzen könne, gäbe es ein Vorkaufsrecht der Stadt, „im besten Falle dann beräumt.“

Im Dezember soll für Klarheit gesorgt werden und über die Widersprüche entschieden werden. Danach könnte der Verkauf noch einmal - in der richtigen Beratungsfolge – verabschiedet werden.