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Industrie Stendaler Landrat lernt Geschichte der Tangerhütter Gießerei kennen

Landrat Patrick Puhlmann (SPD) tauchte in Tangerhütter Gießereigeschichte ein. Frank Dreihaupt, Vorsitzender des Fördervereins „Aus einem Guss“, erklärte die Bedeutung der Industrieruinen für die Stadt und was man daraus machen könnte.

Von Rudi-Michael Wienecke 10.08.2023, 16:28
Der Vereinsvorsitzende Frank Dreihaupt (Mitte) führte Landrat Patrick Puhlmann und die stellvertretende Bürgermeisterin Tangerhüttes,  Kathleen Altmann, durch die einstige Modelltischlerei.
Der Vereinsvorsitzende Frank Dreihaupt (Mitte) führte Landrat Patrick Puhlmann und die stellvertretende Bürgermeisterin Tangerhüttes, Kathleen Altmann, durch die einstige Modelltischlerei. Foto: R.-M. Wienecke

Tangerhütte - Sie sind die Relikte der vergangenen Industriekultur Tangerhüttes – die Ruinen in der Industriestraße. Hinter ihnen erobert sich seit Jahrzehnten die Natur das riesige einstige Gießereigelände zurück. Vandalen tun ihr Übriges. Damit verschwindet zunehmend das wichtigste Kapitel Tangerhütter Geschichte, denn nur durch das Eisenwerk wurde aus dem kleinen Dorf Vaethen die jüngste Stadt der Altmark.

Es hätte schon anders aussehen können, macht Frank Dreihaupt klar. Der Vorsitzende des Fördervereins „Aus einem Guss“ hatte Patrick Puhlmann zu Gast. Der Stendaler Landrat nutzte seine Sommertour für eine Visite auf dem Areal, ließ sich Historie und Zukunftsvisionen erklären.

2019 hätte man den entscheidenden Schritt zur Wiederbelebung der Industriehallen gehen können, so Dreihaupt. Ein Firmenkonsortium habe damit geliebäugelt, in Tangerhütte eine Fortbildungseinrichtung, Veranstaltungshalle, Museum, kleine Geschäfte und Gastronomie inklusive, zu bauen. Eine 90-prozentige Förderung wäre möglich gewesen. Ein Unternehmer aus der Gemeinde sei bereit gewesen, den Eigenanteil von 600.000 Euro zu zahlen.

Modelltischlereihat eine Zukunft

Bei null hätte man nicht anfangen müssen. Bereits 2007 legten die damaligen Architekturstudentinnen Jenny Ahrens und Isabelle Frase mit ihrer Diplomarbeit umfassendes Material zur Gießerei Tangerhütte vor. Sie dokumentierten die Schäden, aber auch die noch vorhandenen erhaltenswerten historischen Teile, sie stellten außerdem ein Sanierungs- und Nutzungskonzept auf. Darauf aufbauend konkretisierte ein Berliner Architekturbüro die Pläne. Der Tangerhütter Stadtrat lehnte das Projekt ab, die Chance war vertan.

Mittlerweile kann der Verein „Aus einem Guss“ allerdings auf einen Grundsatzbeschluss setzen, der besagt, dass die Reste der alten Tangerhütter Gießerei erhalten bleiben sollen. Frank Dreihaupt ist also wieder auf der Suche nach Investoren. Bisher allerdings vergebens. Die Interessenten von einst sind verprellt.

Vorerst sollen kleine Brötchen gebacken werden. Das Gelände ist aktuell baupolizeilich gesperrt, könnte nach einer großen Aufräumaktion wieder begehbar werden. Führungen könnten ein wenig Geld einbringen, um größere Projekte anzuschieben.

Um die Zukunft der einstigen Modelltischlerei in der Wagenführstraße ist es besser bestellt. Dreihaupt konnte verschiedene Gruppierungen der Stadt überzeugen, daraus ein gemeinsames Vereinshaus zu machen. Die Elterninitiative Kinderträume, der ADAC-Ortsclub, die Rassekaninchen- und Geflügelzüchter und die Schützen haben signalisiert, dass sie das Domizil mit nutzen möchten.

Platz genugauf drei Etagen

Platz genug gibt es auf drei Etagen, dem Hof und in dem großen Anbau. Der Verein „Aus einem Guss“ hat mit der Kommune, der Eigentümerin, über das Objekt einen Nutzungsvertrag geschlossen. Mietkosten fallen keine an. Nur die Nebenkosten müssen sich die Vereine teilen. Gemeinsame Arbeitseinsätze brachten erste Erfolge. Die Räume sind leer, der Hof ist frei.

Bevor die Umzugskartons gepackt werden können, gibt es allerdings noch einiges zu tun. Das Gebäude benötigt beispielsweise noch Wasser, einen Stromanschluss, Sanitäranlagen und die Treppe muss repariert werden. Das Problem des eingestürzten Daches vom Anbau könnte mit Photovoltaik gelöst werden. Dreihaupt führt heute diesbezüglich Gespräche. Mit einer Rassekaninchenschau im vergangenen Jahr wurde das Gebäude erstmals im neuen Sinne genutzt, im September soll ein Hoffest gefeiert werden. Laut Dreihaupt handelt es sich bei der Tangerhütte um die ältesten industrielle Gießerei Deutschlands. In den 1970ern wurden sie und das Areal um sie herum unter Denkmalschutz gestellt.

Mit einer Urkunde des preußischen Königs, der am 16. April 1842 ein Grubenfeld bei Weißewarte genehmigte, um das Raseneisenerz in der Tangerniederung abzubauen, fing alles an. Die Magdeburger Kaufleute Helmecke und Wagenführ wollten in der Altmark Eisen gewinnen und verhütten. Der erste Hochofen wurde errichtet. Um ihn wuchsen die erste Gießerei, größere Hallen und weitere Gebäude. 1844 floss das erste Eisen.

Exporte in dieweite Welt

Der zwölf Hektar große Park wurde 1870 auf Initiative des Gießereibesitzers Franz Wagenführ angelegt. Der englische und französische Gartenstil diente als Vorbild. Hecken, Bogengänge, Pavillons, Statuen und italienisch anmutende Balustraden an den Ufern von Teichen prägen das Aussehen. Das dazugehörige Ensemble sucht deutschlandweit seinesgleichen. In ihm gibt es nämlich zwei Schlösser, ein Mausoleum, einen Kunstguss-Pavillon, einen künstlich angelegten Wasserfall, und gleich nebenan zeugen Industriehallen und Wohnhäuser für Arbeiter und Angestellte davon, dass hier einst Industriegeschichte geschrieben wurde.

Rund um die erste Produktionsstätte entstand nach und nach eine kleine Stadt samt eigenem Gutshof, Meister- und Kutscherhäusern, Kegelbahn, Schützenhaus (heute Kulturhaus) und Kinderbewahranstalt (heute das DRK-Zentrum). Seit 1935 ist es nun die jüngste Stadt der Altmark. Der Park diente nicht nur der Erholung, sondern war, wie die Industriefassaden auch, zugleich Ausstellungsraum für Produkte aus der Tangerhütter Gießerei. Bestes Beispiel ist der Kunstgusspavillon von 1889, der neben dem Pariser Eiffelturm auf der Weltausstellung stand. Gießereierzeugnisse aus Tangerhütte waren in der ganzen Welt gefragt, so in Japan, Argentinien oder Ägypten. Manche Leuchte oder Standuhr sind bis heute erhalten.