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Chemieunfall Harzer ABC-Experten schlagen Alarm

Nach dem Chemieunfall in Ilsenburg suchen Polizei und Gewerbeaufsicht nach der Ursache. Derweil schlagen Experten vom Fachdienst ABC Alarm.

Von Dennis Lotzmann 05.08.2019, 20:27

Ilsenburg/Halberstadt (dl/vhe) l Aufatmen bei den Rettern nach dem Chemieunfall in der Nacht zum Sonntag in Ilsenburg: Das Austreten vom 2000 bis 4000 Litern hochkonzentrierter Schwefelsäure ist für alle Beteiligten glimpflich ausgegangen. Die acht in Kliniken behandelten Mitarbeiter der CST GmbH konnten noch am Sonntag die Krankenhäuser in Quedlinburg und Goslar wieder verlassen. Auch die eingesetzten Helfer von Feuerwehr und Katastrophenschutz blieben nach Angaben von ABC-Truppführer Alexander Beck unverletzt.

Die Experten zur Bekämpfung atomarer, biologischer und chemischer Gefahrstoffe (ABC) mussten in der Nacht zum Sonntag vor Ort im Ilsenburger Industriegebiet Höchstleistungen vollbringen. Nachdem in den Nachtstunden gegen 1.15 Uhr mehrere tausend Liter bis zu 96-prozentiger Schwefelsäure ausgetreten waren und den Boden einer CST-Fertigungshalle fast flächendeckend geflutet hatten, mussten die Akteure der ABC-Trupps insbesondere auf Eigenschutz achten.

Alle Arbeiten zum Binden und Entfernen der konzentrierten Säure konnten nur mit speziellen Chemikalienschutzanzügen (CSA) erfolgen. Hier sehen sowohl Beck als auch Kreisbrandmeister Kai-Uwe Lohse dringenden materiellen Nachholbedarf und schlagen mit Blick Richtung Kreisverwaltung Alarm: „Wir verfügen aktuell über maximal 36 solcher Spezialanzüge“, erklären beide unisono. Das reiche bei Unglücken wie dem am Sonntag vorn und hinten nicht.

„Wir bräuchten, um solide ausgestattet zu sein, etwa 80 derartige Anzüge“, so beide übereinstimmend. Was kostenmäßig massiv zu Buche schlagen würde – ein derartiger Schutzanzug koste rund 3700 Euro. Hinzu komme: In der Unglücksnacht hatten die ABC-Trupps nur Zugriff auf 22 CSA. Allein deshalb hätten ABC-Kräfte aus dem Kreis Goslar nachgefordert werden müssen.

Warum diese roten Spezialanzüge im Fall des Falles eine derart entscheidende Rolle spielen, wird beim Blick auf die logistischen und technischen Abläufe klar. Die CSA sind aus speziellem Plastikmaterial sowie Gummi gefertigt und verhüllen die eingesetzten ABC-Fachleute, allesamt Mitglieder freiwilliger Feuerwehren, komplett. Die Atemluftversorgung erfolgt – wie beim Löscheinsatz – mittels Druckluft-Atemschutzgerät, das unter dem CSA getragen wird.

Insbesondere letzteres, erklärt ABC-Truppführer Alexander Beck, setze dem Einsatz im CSA zeitlich-enge Grenzen. „Je mehr die Einsatzkräfte körperlich gefordert sind, desto schneller müssen sie abgelöst werden.“ Die Zeitdauer könne zwischen zehn und bestenfalls 40 Minuten liegen.

Nach dem Einsatz müssen die Einsatzkräfte die genutzten CSA vorsichtig ablegen. Auch hierbei stehe der Eigenschutz aller Beteiligten an oberster Stelle. Zunächst werden die vollverhüllten Akteure in einem Zelt geduscht. Dabei können – je nach Einsatz – sowohl Wasser als auch Chemikalien zum Neutralisieren Verwendung finden.

Danach treten die ABC-Experten aus dem Zelt hinaus in einen großen Foliensack und werden – in diesem stehend – von mehreren mit Gebläseanzügen verhüllten Helfern aus dem CSA befreit. „Der CSA wird im Plastiksack verschlossen zur Aufbereitung gebracht und ist vor Ort nicht mehr nutzbar“, skizziert Beck das Prozedere.

Jene Aufbereitung erfolge entweder im Feuerwehr-Technischen Zentrum in Thale oder in spezialisierten Fachfirmen. Dabei werde der CSA exakt begutachtet und entschieden, ob er gereinigt und geprüft erneut verwendet werden könne, repariert oder ganz und gar entsorgt werden müsse. „In jedem Fall müssen wir sicherstellen, dass er bei einer neuerlichen Nutzung alle funktionellen Anforderungen erfüllt“, so Beck.

Er und auch Lohse leiten – insbesondere mit Blick auf die Erfahrungen in der Nacht zum Sonntag – eine Schlussfolgerung ab: Die Zahl der im Harz-Kreis verfügbaren CSA müsse von aktuell 36 auf 80 mehr als verdoppelt werden. „Das wäre aus unserer Sicht eine verlässliche Größe“, so Lohse. Was rein rechnerisch mit rund 163.000 Euro Kosten verbunden wäre.

Dass die Forderung der beiden ABC-Experten keineswegs aus der Luft gegriffen ist, belegt allein der Blick in den benachbarten Salzlandkreis, der räumlich und strukturell mit dem Harzkreis vergleichbar ist. Zählt der ABC-Trupp im Harzkreis 86 Aktive sowie 16 Atemschutzgeräteträger in Reserve, stehen im Salzlandkreis nach Angaben der dortigen Pressesprecherin 87 Kameraden für ABC-Einsätze bereit. Und: „Derzeit verfügen einzelne Feuerwehren im Salzlandkreis über insgesamt 94 CSA.“ Mehr also als die für den Harz veranschlagten 80 CSA.

Dabei sieht Alexander Beck auch hier reichlich Gefahrenpotenzial. „Wir haben diverse Galvanikfirmen, in denen agressive Chemikalien eingesetzt werden, nutzen in vielen Freibädern Chlor, haben in Osterwieck eine Firma, in der Arsen verarbeitet wird und zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe, wo mit Ammoniak hantiert wird.“ Nicht zuletzt sei da auch die A 36, auf der tagtäglich zahlreiche Transporte mit Gefahrgut rollen. Becks Fazit überrascht daher nicht: „Wir müssen in materieller Hinsicht deutlich aufrüsten.“

Wie der Vorstoß der beiden ABC-Experten in der Harzer Kreisverwaltung beurteilt wird, blieb am Montag offen. Am Nachmittag war in der Pressestelle niemand mehr für eine Stellungnahme erreichbar.

Derweil laufen die Ermittlungen von Polizei und Gewerbeaufsicht auf Hochtouren. Warum die konzentrierte Schwefelsäure ausgetreten ist, blieb am Montag unklar. Vertreter der Gewerbeaufsicht wollten sich nach einer Besichtigung der Unglücksstelle noch nicht im Detail äußern. Die Produktion im betroffenen Bereich sei stillgelegt und dürfe erst wieder aufgenommen werden, wenn die Firma nachweise, dass die Ursachen für die Havarie behoben seien, so eine Sprecherin. In der Firma, einem Zulieferer für die Automobilindustrie, war am Montag niemand erreichbar.

Nach Informationen der Volksstimme soll sich die Schwefelsäure aufgrund eines fehlerhaften Sensors überhitzt haben und dann schlagartig aus einer Anlage ausgetreten sein. Die Polizei hat nach Angaben von Reviersprecherin Nadine Sünnemann Ermittlungen wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen Unbekannt eingeleitet.