1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Wernigerode
  6. >
  7. Stuhlarbeiterstreik im Harz eskaliert

Fabrikarbeit Stuhlarbeiterstreik im Harz eskaliert

23 Wochen lang streikten Stuhlarbeiter in Bad Lauterberg 1896 für bessere Bedingungen. Denn nicht nur ihre Löhne waren niedrig.

Von Christian Juranek und Friedhart Knolle* 26.05.2020, 10:46

Bad Lauterberg l Als 1890 das Sozialistengesetz auslief, begann erneut der Aufbau von Organisationen der Arbeiterbewegung. Der sozialdemokratische Holzarbeiterverband war insbesondere in der damaligen Bad Lauterberger Stuhlindustrie aktiv. In den neun Stuhlfabriken der Region Lauterberg waren bis zu 1.000 Arbeitnehmer beschäftigt.

Arbeitskräfte lieferte das schwächelnde Berg- und Hüttenwesen des Harzes sowie die Vorharz-Landwirtschaft. Zu den Festangestellten traten die Heimarbeitskräfte: Ehefrauen, Alte, auch Kinder, die für das Stuhlflechten beschäftigt wurden – trotz des Verbots der Kinderarbeit.

Zur Lohnsituation in Lauterberg warnte die Holzarbeiterzeitung: „Hinein kommt man nach Lauterberg sehr gut, aber schlecht wieder heraus“. Das Herauskommen erschwerte ein Trucksystem. Die Arbeiter mussten einen Teil ihrer Arbeitsmaterialien beim Fabrikherrn kaufen, wobei die Preise über den Handelspreisen lagen. Akkordarbeiter mussten ihre Werkzeuge selbst stellen und, da elektrisches Licht noch fehlte, sogar für das Petroleum am Arbeitsplatz aufkommen.

Trotz der Mahnungen der preußischen Gewerbeaufsicht änderte sich dieses System lange nicht. Den Arbeitern wurde ein Teil ihres Lohnes bei Auszahlung wieder aus der Tasche gezogen, und sie verschuldeten sich. Auch die Verschuldung beim Handel war hoch, begünstigt durch das System des Anschreibens. Es wurde auf Kredit gekauft und dann am Lohntag bezahlt. Schwankte der Lohn, geriet die Tilgung ins Schleudern.

Hinzu kam ein drastisches Geldstrafensystem bei Verstößen gegen die Arbeitsordnung. Auch die regelmäßige Drohung mit der fristlosen Kündigung schuf kein Vertrauensklima. Die Wirtschaftslage in der Stuhlindustrie war Anfang der 1890er Jahre höchst schwankend, sodass Kurzarbeit und Lohndrückerei sowie Druck auf Gewerkschaftsmitglieder durch die Unternehmer das Arbeitsklima bestimmten.

Im Frühjahr 1896 startete der Arbeitskampf, der als der Lauterberger Stuhlarbeiterstreik Geschichte schrieb. Die Unternehmer Haltenhoff und Zeidler überspannten die Lohndrückerei und lösten damit den am 2. März 1896 beginnenden Streik aus. Die Arbeiterbewegung stand unter staatlicher Kontrolle. Nur wenige Betriebe leisteten sich die Beschäftigung von offen auftretenden Sozialdemokraten oder Gewerkschaftern. Wurde die Mitgliedschaft bekannt, folgte bald die Kündigung.

Der Streikleiter Fritz Erfurth wurde im Laufe des Streiks zum Angriffsobjekt der Unternehmer. Er war der böswillige Agitator, der Verführer – der sozialistische Teufel. Der als hitzig bezeichnete Erfurth überzog die Richtung des Arbeitskampfes, sodass die Unternehmer mehr als nur eine Lohnerhöhung befürchten mussten.

Im Mai eskalierte der Streik und umfasste den gesamten Ort Lauterberg. Doch mit der Zeit erschöpfte der Streik die Kassen der Arbeiterschaft. Im Herbst 1896 zeichnete sich ab, dass der Streik die Gewerkschaft in den Ruin treiben würde. Man hatte die Durchhaltekraft der Unternehmer unterschätzt und der Streik wurde beendet.

Eine lohnpolitische Verbesserung erreichte der Streik nicht. Die wirtschaftliche Lage der Stuhlindustrie setzte sich in weiterer Lohndrückerei fort und führte 1906/1907 erneut zu Streiks in Lauterberg.

Der Stuhlarbeiterstreik galt mit 23 Streikwochen als längster und dramatischster Arbeitskampf seiner Zeit. Wegen der mit ihm verbundenen Auseinandersetzungen beschäftigte er sogar den Reichstag.

Mehr zu diesem Streik findet sich im Beitrag von Klaus Wettig in der jüngsten Harz-Zeitschrift, die im Lukas-Verlag Berlin im 71. Jahrgang für das Jahr 2019 erschien.

* Die Autoren sind Mitglieder des Harz-Vereins für Geschichte und Altertumskunde.