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Kuchbuch So aßen die alten Harzer

Viel Arbeit liegt hinter Brigitte Böttcher. Die Wernigeröderin kann stolz sein auf ihr Buch „Gutes Essen in schlechten Zeiten“.

Von Ivonne Sielaff 27.10.2018, 01:01

Wernigerode l Brathering einmal anders: Kartoffeln, Hefeflocken, Haferflocken, Hafermehl mit Salz und Pfeffer mischen. Bratlinge in Fischform knusprig ausbacken. Essigtunke mit Zwiebeln und Lorbeerblatt aufkochen, heiß über die Bratlinge gießen, durchziehen lassen. Und fertig. Den Fisch sucht man bei diesem Rezept vergeblich. Dennoch soll das Gericht den pikanten Geschmack von Bratheringen haben.

In Notzeiten, wenn Lebensmittel knapp waren, wussten sich die Harzer zu helfen. Viele Rezepte aus der Zeit der Weltkriege und der Nachkriegszeit sind notgedrungen fleischlos. Es ging ums Sattwerden und ums Überleben. Ein Sammlung solcher Harzer Notrezepte ist jetzt druckfrisch im Buch „Gutes Essen in schlechten Zeiten“ zu finden.

Die Veröffentlichung vom Landesheimatbund und dem Zentrum HarzKultur hätte es ohne Gevatter Zufall nicht gegeben. Und Brigitte Böttcher, Autorin des Buches, half ihm noch gehörig auf die Sprunge. Die Rentnerin arbeitet ehrenamtlich im Zentrum HarzKultur. Ihre Aufgabe: sämtliche Dokumente des Harzarchivs zu sichten, zu erfassen und schließlich in digitaler Form zu präsentieren. Dabei stieß die Harzerin auf einen Schatz – ein altes Manuskript mit dem Titel „Notrezepte“. Die Schreibmaschinenseiten seien teilweise unleserlich gewesen, die Inhalte jedoch locker und sachkundig geschrieben – die Verfasserin eine gewisse Dr. Irene Ziehe.

Ein faszinierender Fund, der viel zu wertvoll sei, um ungesehen in einem Archiv zu schmoren, dachte sich Brigitte Böttcher. In ihr wuchs die Idee, das Manuskript zu veröffentlichen und um weitere Rezepte zu ergänzen. Und dabei kamen die Harzer selbst ins Spiel. Nach Berichten in der Volksstimme und in anderen Medien wurde das Zentrum HarzKultur regelrecht überschwemmt von alten Kochbüchern und handgeschriebenen Rezeptesammlungen. Mehr als 80 Einzelstücke vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die DDR-Zeit wurden in dem Archiv im Wernigeröder Dornbergsweg abgegeben und von Brigitte Böttcher zum Teil für das Buch übernommen.

Aber ein Kochbuch, ohne die Rezepte vorher zu testen, das kam für die Autorin nicht in Frage. Sie nahm Kontakt zu Martina Fölsch auf, die die Koch-AG in der Thomas-Müntzer-Sekundarschule leitet. Ihre Schüler versuchten sich an den Kochanleitungen. Dabei entstanden nicht nur leckerere Gerichte, sondern nebenbei auch noch professionelle Fotos von den Speisen und den jungen Köchen, die ebenfalls in das Buch einflossen.

Zur Präsentation des neuen Druckwerkes in dieser Woche banden die Sekundarschüler erneut die Kochschürzen um und bewirteten die Gäste. Auf den Tisch kamen eine Wildkräutersuppe, Bettelmann und natürlich der Brathering ohne Fisch. Unter den Gästen war auch Irene Ziehe, die Verfasserin des Manuskriptes, die mit ihrem Mann extra aus Berlin angereist kam. „Ich freue mich sehr, hier zu sein“. Sie habe in den 1980er Jahren als Kulturanthropologin für das Harzer Folklorezentrum in Wernigerode gearbeitet und zum Thema Essen und Trinken im Harz geforscht. Zu jeder Zeit seien auch ihre „Notrezepte“ entstanden. „Ende der 80er Jahre sind wir nach Berlin gezogen“, so Irene Ziehe. „Und in den Wendejahren hatte ich das Manuskript nicht mehr im Kopf.“ Als vor anderthalb Jahren dann der Anruf von Brigitte Böttcher aus Wernigerode kam, sei sie sehr erfreut gewesen. „Und ich bin sehr angetan, was nun daraus entstanden ist.“

Nämlich keine simple Rezeptesammlung, sondern ein Buch mit vielen Informationen zur Zeitgeschichte und zur Esskultur in der Harzregion und darüber hinaus. Was besonders fasziniert, ist der Einfallsreichtum, mit dem unsere Vorfahren aus dem wenigen, was sie hatten, leckere Gerichte kreierten. Das ist nicht nur informativ, sondern regt zum Nachkochen an – genau das, was Brigitte Böttcher mit ihrem Buch auch bezweckt. „Dadurch können die nächsten Generationen zumindest noch einmal den Geschmack probieren, den ihre Großmütter und Urgroßmütter in Topf und Pfanne erreichten.“

„Gutes Essen in schlechten Zeiten“, von Brigitte Böttcher, herausgegeben vom Landesheimatbund Sachsen-Anhalt und vom Zentrum HarzKultur, ISBN: 978-3-940744-86-9