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Bürgermeisterwahl Kampf um Wahlrecht für Behinderte

Gegen die Wolmirstedter Bürgermeisterwahl gibt es einen Einwand. Dabei geht es um das Wahlrecht für eine Frau mit einer Behinderung.

Von Gudrun Billowie 18.10.2018, 01:01

Wolmirstedt l Die Sache ist verflixt. Auch wenn niemand damit rechnet, dass die Wolmirstedter Bürgermeisterwahl angefochten und gar wiederholt wird. Dennoch wird sich der Stadtrat mit dem Einwand befassen, den die Betreuerin einer Frau mit Handicap vorgetragen hat. Und entscheiden, ob der Einwand zugelassen oder abgeschmettert wird. Was war passiert?

Die Wolmirstedter haben am 16. September eine neue Bürgermeisterin gewählt. Auch Frau S. (Name ist der Redaktion bekannt) wollte sich an dieser Wahl beteiligen. Frau S. ist eine recht agile Frau mit einer Behinderung, lebt im Bodelschwingh-Haus und hatte keine Wahlbenachrichtigung bekommen. Am Wahltag wollte sie trotzdem über das neue Stadtoberhaupt mitentscheiden.

Die Bodelschwingh-Haus-Mitarbeiter rieten ihr, mit dem Personalausweis zum Wahllokal zu gehen, sie müsse schließlich auf den Wählerlisten stehen und könne somit womöglich auch ohne Wahlbenachrichtigung ihr Kreuz auf die Kandidatenliste setzen. Doch weit gefehlt. Frau S. stand gar nicht auf der Wählerliste.

Sie wurde an das Wahlbüro im Rathaus verwiesen und sprach dort vor. Wahlleiter Dirk Illgas wies darauf hin, dass Frau S. unter Betreuung steht und sich deshalb an ihre Betreuerin wenden müsse. Die solle ihre Angelegenheiten regeln. Frau S. folgte diesem Rat.

Angelika Bresch ist diese Betreuerin. Weder sie noch Frau S. waren stutzig geworden, als vor der Wahl kein Wahlschein gekommen war. Deshalb haben sie sich im Vorfeld nicht gekümmert. Dennoch: Selbst am Wahlsonntag bis 15 Uhr gab es für die Betreuerin noch die Möglichkeit, einen Wahlschein für ihre Betreute zu beantragen. Angelika Bresch hat das versucht. „Ich habe ein Fax geschickt, doch das Faxgerät im Rathaus war wohl abgeschaltet.“ Mehr sei ihr am Wahlsonntag nicht möglich gewesen, da sie in Haldensleben wohnt. Nach Auffassung des Wahlleiters Dirk Illgas war demnach an diesem Tag das Wahlrecht für Frau S. verwirkt.

Dagegen hat Angelika Bresch in den Tagen nach der Wahl beim Wahlleiter im Rathaus Einspruch eingelegt. Der Einspruch wurde abgewiesen.

Das will Angelika Bresch nicht hinnehmen. Deshalb hat sie nun Klage beim Magdeburger Verwaltungsgericht eingereicht. Sie möchte das Wahlrecht für Frau S. durchsetzen. Sie versteht ohnehin nicht, warum es der von ihr betreuten Frau verwehrt wurde. „Nirgends wird es so gehandhabt wie in Wolmirstedt.“

Als Berufsbetreuerin hat Angelika Bresch 50 Schützlinge in ihrer Obhut. Sie kümmert sich um deren Angelegenheiten. Wesentliche Entscheidungen treffen viele Betreute dennoch selbst, sei es, ob sie heiraten, ein Testament verfassen oder eben wählen gehen.

Frau S. hat zwar eine Behinderung, ist aber im Bodelschwingh-Haus sehr aktiv. Gerade hat sie bei der Erarbeitung eines Aktionsplans mitgewirkt, in dem festgelegt wurde, wie die UN-Behindertenkonventionen vor Ort umgesetzt werden können.

„Wir arbeiten sehr daran, dass die behinderten Menschen selbstständig sind, sich in das gesellschaftliche Leben einbringen“, sagt Bodelschwingh-Haus-Vorstand Swen Pazina, „und wir beobachten ein zunehmendes Interesse, wählen zu gehen.“

Swen Pazina ist gleichzeitig CDU-Stadtrat und hat sich näher mit der Angelegenheit beschäftigt. Zwar seien im konkreten Fall die Betreuer für die behinderten Menschen zuständig, das Bodelschwingh-Haus möchte künftig trotzdem solchen Wahlärger vermeiden. „Vor den nächsten Wahlen wollen wir in die Wählerliste einsehen, um Klarheit zu bekommen, wer von unseren Bewohnern eigentlich wählen gehen darf.“

Ob sie ihr Wahlrecht nutzen, entscheiden die Bewohner dennoch selbst. „Wir steuern das nicht“, betont Swen Pazina, „aber wer wählen gehen möchte, dem ermöglichen wir das.“ Von den gut 180 Bewohnern haben bisher stets etwa 30 bis 40 ihr Stimmrecht genutzt. Warum ausgerechnet Frau S. nicht als Wählerin zugelassen war, erschließt sich auch Swen Pazina nicht, sieht das aber eher in der Entscheidung des Amtsgerichts über den Betreuungsbedarf begründet.

Der Stadtrat muss sich am Donnerstag, 18. Oktober, aus einem anderen Grund mit diesem Wahleinspruch befassen. Er hätte mitentscheiden müssen, ob der Einspruch zugelassen oder abgeschmettert wird. Das ist nicht passiert und soll nun nachgeholt werden.

Geht es nach der Verwaltung, wird der Einwand der Betreuerin zur Kenntnis genommen und die Wahl trotzdem anerkannt. Aber: Es gibt auch zwei andere Möglichkeiten.

Die zweite Variante ist, den Einwand als begründet anzusehen, die Wahl trotzdem für gültig zu erklären, weil das Ergebnis nicht oder nur unwesentlich beeinflusst wurde.

Eine dritte Möglichkeit besteht darin, die Wahl ganz oder teilweise für ungültig zu erklären, weil die Einwände so schwerwiegend sind, dass bei einwandfreier Durchführung der Wahl ein wesentlich anderes Ergebnis zustande gekommen wäre. Dann müsste neu gewählt werden. Doch soweit wird es wohl nicht kommen.

Betreuerin Angelika Bresch ist zur Stadtratssitzung eingeladen, kann sich vor dem Gremium zum Sachverhalt äußern. Ob sie persönlich kommen wird oder ihre Angelegenheit vertreten lässt, vermochte sie gestern nicht zu sagen.

Am 16. September war Marlies Cassuhn (parteilos) mit fast 58 Prozent der Wählerstimmen im ersten Wahlgang zur neuen Bürgermeisterin gewählt worden. Das zweifelt Angelika Bresch in keiner Weise an. „Ich gratuliere zu diesem guten Ergebnis“, sagt sie im Volksstimme-Gespräch, „aber ich möchte, dass in Zukunft das Wahlrecht für die Betreuten durchgesetzt wird.“ Am 26. Mai 2019 stehen Europa- und Kommunalwahlen an.

Marlies Cassuhn soll am Donnerstag, 15. November, im Stadtrat als Bürgermeisterin von Wolmirstedt für sieben Jahre vereidigt werden.