1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halberstadt
  6. >
  7. Das Lebenswerk ist nur noch Erinnerung

Hans-Joachim Bekurts, früher Chef des Geflügelzuchtbetriebs Deersheim, wurde gestern 85 Jahre Das Lebenswerk ist nur noch Erinnerung

Von Mario Heinicke 05.01.2012, 05:20

Der älteste männliche Deersheimer wurde gestern 85 Jahre alt. Hans-Joachim Bekurts führte zu DDR-Zeiten den Geflügelzuchtbetrieb zu Weltruf und prägte damit das ganze Dorf.

Deersheim l 22 Jahre sind seit dem Ausscheiden von Hans-Joachim Bekurts aus dem Gefügelzuchtbetrieb, "seinem" Betrieb, vergangen. In den Wende-Wirren hatte die Belegschaft seinen Rauswurf gefordert. Der schwärzeste Tag in seinem Leben, den er heute noch nicht verwunden hat. Nie wieder setzte er seitdem einen Fuß in den Betrieb, der ohne ihn nie zu dem geworden wäre, was er war. Und der Ort Deersheim hätte ohne Bekurts\' damaligen Einfluss wohl vieles nicht, was er heute hat. Kein Dorfgemeinschaftshaus, keine Kaufhalle, keine Hauptstraßen um den Dorfkern herum, kein Flutlicht für den Sportplatz.

Die Zeit macht vergesslich, sie heilt aber auch viele Wunden. Bei Bekurts und bei den Deersheimern. Als 2007 das Jubiläum 80 Jahre Geflügelhaltung in Deersheim gefeiert wurde, stand Hans-Joachim Bekurts zum ersten Mal wieder vor Publikum, sichtlich gerührt vom Beifall zur Würdigung seiner Lebensleistung. Und das im Beisein der Landwirtschaftsministerin, des Landrates und weitgereister Geflügelzuchtexperten, die teils ihre ersten beruflichen Schritte in Deersheim gingen.

Die Geflügelzucht wurde Hans-Joachim Bekurts sprichwörtlich in die Wiege gelegt. Genau in seinem Geburtsjahr 1927 begann sein Vater Walter Bekurts mit der gewerblichen Hühnerzucht. Ein kleines Häuschen zur Aufzucht von hundert Küken auf dem elterlichen Hof im Winkel bildete den "Geburtsort" der Deersheimer Geflügeltradition. Andere Bauern aus dem Dorf verfolgten Bekurts\' Treiben eher spöttisch, denn Hühner galten höchstens als Kleinvieh und waren zum Eierlegen gut, nicht aber zum Broterwerb. Schon bald entstanden größere Hühnerställe, die auf umliegenden Ackerstücken aufgebaut wurden.

"Mein Traum war ein moderner, industriemäßig produzierender Geflügelzuchtbetrieb."

Hans-Joachim Bekurts ging derweil zur Mittelschule in Osterwieck. 1943 begann er eine Ausbildung zum Landwirt. Aber nicht zu Hause, sondern in Sargstedt. Die aktive Teilnahme am Weltkrieg blieb Bekurts nicht erspart. Mit 17 Jahren wurde er zunächst zum Reichsarbeitsdienst einberufen, sein großer Bruder Erhard war zu dem Zeitpunkt schon in Russland gefallen. Hans-Joachim Bekurts überlebte den Krieg mit einer Portion Glück und Schlitzohrigkeit. Nach der Gefangenschaft in Belgien kam er 1946 zurück nach Deersheim und besuchte danach bis 1947 die Landwirtschaftsschule in Wernigerode. Es blieben die einzigen vier der 85 Lebensjahre, die er nicht in seinem Heimatdorf verbrachte, aber nicht die letzten, in denen Bekurts die Schulbank drückte. Er wurde später noch Geflügelzuchtmeister und 1966 nach dem Fernstudium an der Universität Halle Diplomlandwirt.

Auf dem elterlichen Hof musste Hans-Joachim Bekurts früh Verantwortung übernehmen. Der Vater kam schwer gezeichnet aus dem sowjetischen Internierungslager Sachsenhausen zurück. Als Vater und Sohn Bekurts 1958 als letzte der größeren Deersheimer Bauern in die LPG "Karl Marx" eintraten, ergaben sich neue Möglichkeiten, die Geflügelzucht zu vergrößern. "Mein Traum war ein moderner, industriemäßig produzierender Geflügelzuchtbetrieb", sagt Hans-Joachim Bekurts. Zehn Millionen Mark Investitionssumme sah sein Konzept vor. "Solche Summe hätten wir als private Züchter nie aufbringen können." Viel Klinkenputzen war nötig, um Partei und Regierung von seinem Vorhaben zu überzeugen. 1960 und 1961 wurden allein 20 Legehallen gebaut. Die Geflügelabteilung verdiente gutes Geld für die LPG.

Für die industrielle Geflügelzucht wurden zwischen 1961 und 1966 völlig neue Zuchtlinien mit weißen Leghorn-Hühnern geschaffen. "Professor Heinz Brandsch von der Universität Halle beabsichtigte, in der DDR die in den USA erfolgreiche Legehybridzucht einzuführen. Dafür brauchte er einen Zuchtbetrieb, und er entschied sich für Deersheim." Es gab aber auch ein weinendes Auge bei Bekurts. "Wir mussten unsere gesamten alten Zuchtstämme vernichten. Kein anderer Betrieb war bereit, solch ein Risiko einzugehen und völliges Neuland zu betreten."

"Kein anderer Betrieb war bereit, solch ein Risiko einzugehen und völliges Neuland zu betreten."

Auch für den Ort Deersheim bedeutete Bekurts\' Zusage praktisch den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Es entstanden in den 1960er und 1970er riesige Aufzuchthallen, bis zu 600 Menschen arbeiteten im Betrieb, überwiegend Frauen. Fachleute wurden von Universitäten und Hochschulen angeworben, viele hatten promoviert. Sie alle benötigten Wohnraum. In Deersheim entstanden Eigenheime und ferngeheizte Wohnblöcke. Das Verwaltungsgebäude des Betriebes bekam Hallenbad, Kegelbahn, Gaststätte und Friseur zur allgemeinen Nutzung. Bekurts hat es zusammengezählt: Sechs Millionen Mark gab der Betrieb für Baumaßnahmen im Dorf aus.

1968 wurde der Linienzuchtbetrieb für Legehennen Deersheim gegründet und Hans-Joachim Bekurts mit dessen Leitung beauftragt. Der Betrieb gehörte später zum Kombinat Industrielle Mast, mit seiner Abkürzung KIM seinerzeit wohl jedermann bekannt. "Ich bin noch heute dankbar, dass wir dazugehören durften." Die Deersheimer produzierten selbst jedoch keine KIM-Eier, sondern waren für die Kükenaufzucht aller Kombinatsbetriebe zuständig: 700 000 Elterntierküken jedes Jahr. Sinnbildlich hatte damit jedes der hochgerechnet 4,5 Milliarden Frischeier, die jährlich in der DDR verzehrt wurden, seinen Ursprung in Deersheim.

"Qualifizierte Mitarbeiter sind die tragenden Säulen", betont Bekurts. In 30 Jahren hatte der Geflügelzuchtbetrieb rund 600 Menschen zu Facharbeitern ausgebildet.

Deersheim besaß damit einen Vorzeigebetrieb. Hans-Joachim Bekurts ist heute noch stolz, dass der erste Deutsche im All, Sigmund Jähn, 1978 den Betrieb besuchte. Damals eine große Auszeichnung. Die Fußballer vom 1. FC Magdeburg kamen 1977 ins Dorf zum Trainingslager und wussten die Sportbedingungen zu schätzen. Ungezählte internationale Delegationen aus Ost und West weilten im Ort. Bekurts selbst wurde 1979 mit dem Vaterländischen Verdienstorden ausgezeichnet.

Hans-Joachim Bekurts verhehlt nicht, dass auch für den Geflügelzuchtbetrieb vieles nur über Beziehungen und Tauschgeschäfte möglich war. Er aber schien das Talent dafür zu besitzen. Auch das Talent, die höheren Stellen von seinen nicht gerade preiswerten Visionen zu überzeugen. Bekurts sieht sich vor allem als Macher, dessen Wort mit den Jahren immer mehr zählte, der auch eine gewisse Macht hatte.

So fiel er nach dem für ihn bitteren Ende 1990 nicht in ein tiefes Loch. "Das Leben musste weitergehen." Bekurts, bereits nah am Rentenalter, verkaufte einige Jahre Edelstahlrohre - ein gutes Geschäft. "Und ich wurde Geschäftsführer", sagt er verschmitzt. Zwar nicht von einem großen Betrieb, aber - bis 2001 - von der Wirtschaftsvereinigung Roland-Initiative Halberstadt.

Mit seinem Heimatort aber hatte er erstmal gebrochen - bis zu jener Geflügelhaltung-Jubiläumsveranstaltung 2007. Und dort gab er den an ihn gerichteten Dank an all die Frauen seines früheren Betriebes weiter. "Ohne sie wäre die Geflügelzucht in Deersheim nicht denkbar gewesen."

"Ohne all die Frauen wäre die Geflügelzucht in Deersheim nicht denkbar gewesen."

Bekurts betont, dass er seinen Traum von einem großen Geflügelzuchtbetrieb immer in Deersheim und nirgendwo anders erfüllen wollte. Hier, wo sein Großvater, der Kantor und Lehrer Johannes Mäntz, noch heute bekannt ist, wo seine Schwester Dorlies Pieper dem Dorf viel heimatkundliches Wissen hinterließ und wo sein Schwager Günter Pieper als Ehrenbürger in die Geschichte einging. Und bleibt man bei Besonderem, so zählt auch seine Ehefrau Marianne dazu. Sie, die frühere Lehrerin, ist heute Deersheims ältester Einwohner überhaupt.

Hühner laufen übrigens nicht im Garten Bekurts herum. Deersheims Geflügeltradition setzt heute ein Biohof fort. Beim täglichen Spaziergang mit Dackel "Therry" ärgert sich Hans-Joachim Bekurts aber immer wieder über die Zäune, die der Biohof mitten in den Wald setzen musste, weil es die EU-Bürokratie so will. Zu DDR-Zeiten hätte er sicher jemanden gekannt, der das zu verhindern gewusst hätte. Die Geflügelzuchttradition, das jahrzehntelange Wirken von Hans-Joachim Bekurts aber ist Geschichte. Die von Bekurts mitentwickelten weißen Leghorn-Hybriden sind, was Fachleute längst bedauern, nach der Wende nicht weiter gezüchtet worden und somit ausgestorben. Vergessen, wie auch das Lebenswerk von Hans-Joachim Bekurts nur noch die Erinnerung ist.