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Bestseller-Autor Wladimir Kaminer kommt bei seiner Lesung in Osterburg nicht ohne Zugabe davon "Ich fühle mich hier verstanden"

Von Astrid Mathis 16.10.2014, 03:11

"Ich bin seit 15 Jahren auf Lesereise. Mit Osterburg kann ich behaupten, ich war überall", begann am Dienstagabend Wladimir Kaminer seine Lesung im Saal der Stadtverwaltung Osterburg. Damit hatte der Bestsellerautor die Zuhörer sofort in der Tasche. Charmantes Lächeln, Eintrag ins Ehrenbuch der Stadt, und los ging`s.

Osterburg l "Es gab keinen Sex im Sozialismus", so lautete der Titel der ausverkauften Abendveranstaltung. 2009 geschrieben, hatte Kaminer mehr als Geschichten daraus zu bieten. Aktuell im Gepäck: "Coole Eltern leben länger" und frisch Verfasstes auf DIN A4-Blättern. 23 Jahre im Sozialismus und 23 im Kapitalismus liegen hinter ihm. Immer kommt zur Sprache, was es gab und was nicht, verrät er.

Kulturkampf: Hauptsache kein Mainstream

Oft genug gerät er mit seiner Tochter Nicole deswegen aneinander. Zum Beispiel beim Thema Jeans. Sie will nicht Mainstream sein und Löcher in der Hose. Er muss sich anhören: "Du bist in einem Land aufgewachsen, das es nicht mehr gibt, in einem Jahrhundert, das vorbei ist. Du hast keine Ahnung von meiner Kultur." Doch auch er wollte nicht Mainstream sein, die steife Jeans aus der Fabrik "Junge Bolschewiken" durch Steine in der Waschmaschine lockern und kommt zu dem Schluss: "Du bleibst in unserer Kultur, solange du in der Jeans steckst."

Eine seiner nicht abgedruckten Geschichten erzählt von seiner Mutter. Die zögert, sich im Volkshochschulkurs für Englisch anzumelden. Weil sie seit 23 Jahren diesen Kurs macht. Jetzt ist sie 83. Englisch lernt sie, seit John F. Kennedy erschossen wurde. Mit ihrer Übersetzung von Nebelvertreibungen auf Flughäfen hat sie damals ihr Geld verdient. Noch nie hat sie sich mit einem Engländer unterhalten, nur mit ihrer Enkelin, und die behauptet, kein Wort zu verstehen. Allerdings hat sich Nicole auf dem Sprachgymnasium für Russisch eingetragen, obwohl sie es kann. Ihr Vater Wladimir Kaminer: "Warum?" - "Weil ich einmal die Beste sein will." Der Fairness halber plaudert er im Anschluss auch von Sohn Sebastian aus dem Nähkästchen. Der hat Schwierigkeiten in Französisch. Aus einem einfachen Grund, sagt er: "Es ist unmöglich, nach dem Stimmbruch Französisch zu lernen, ohne schwul auszusehen."

In der Geschichte "Zeit des allgemeinen Fliegens" vergleicht Kaminer frühere Helden und weckt in den Zuhörern Erinnerungen: In Amerika gab es Superman, in Schweden Karlsson vom Dach, in Deutschland Biene Maja und in der Sowjetunion Jurij Gagarin. Klischees hasst er. Zum Beispiel dieses: Ostdeutsche hören die Eisenbahn von weitem, obwohl er das nach einem Spaziergang im Brandenburgischen bestätigt findet. Windelfreier Erziehung kann er nichts abgewinnen, obwohl er sich selbst als "zu stark gewickelt" ansieht.

Bei der Frage nach dem Namen des 33. Präsidenten in den Vereinigten Staaten müsse jeder Russe lachen, weil die im eigenen Land an einer Hand abzuzählen sind. Aber Kaminer lebt ja seit Jahren in Berlin-Prenzlauer Berg. Darum gab er nach einer Autogrammpause die Geschichte "Solange Merkel lacht" zum besten, die seine Kinder von dem Besuch der Kanzlerin in ihrer Schule mitbrachten. "Ich beneide Kinder, die sagen, was ihnen nicht schmeckt", erklärt der Autor, der zur Generation der sauberen Teller gehört. Als Schüler mit Nelke auf das Mausoleum steigen mussten, um sich von einem Staatsoberhaupt küssen zu lassen. Nach seiner Liebesbrief-Episode in der Armee und jubelndem Applaus platzt Wladimir Kaminer heraus: "Ich muss öfter nach Osterburg kommen. Ich fühle mich hier verstanden." Geschichten seien eben das einzige, was bleibt. Wenn sie gut sind.

Zum Schluss erhebt der leidenschaftliche Gärtner sein Glas "Auf ein Leben in der Sonne!" und lädt wiederholt zur Pilzsuche ein. Bürgermeister Nico Schulz bedient sich eines Klischees und überreicht Wodka. Für den tosenden Beifall packt Kaminer eine letzte heitere Geschichte aus und entlässt strahlende Zuhörer.