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Altmärkische Beamte üben in Lindstedt Verhalten bei Schul-Amoklauf Wenn Schüsse im Klassenzimmer knallen

Von Gesine Biermann 15.05.2013, 03:14

Gardelegen. Mit gezogener Dienstpistole geht Dirk Witte rückwärts die Kellertreppe hinunter. Der Polizeihauptmeister kann ohnehin nicht viel sehen. Der Keller ist dunkel und Witte hat, genau wie sein Kollege hinter ihm, nur eine kleine Taschenlampe. Rücken an Rücken arbeiten sich die beiden Polizisten vor. "Sauber", sagt Wittes Kollege jetzt laut, stürmt unmittelbar in den nächsten Kelleraum und ruft: "Polizei!"

Zwischen Schultafeln und bunten Kinderbildern an den Wänden fallen Schüsse: Etwa 700 Beamte der Polizeidirektion Nord trainieren gruppenweise in der ehemaligen Lindstedter Grundschule die Bewältigung von Amoklagen.

Die Szene indes spielt nicht in einem Fernsehkrimi im Abendprogramm. Sie spielte sich gestern in der ehemaligen Lindstedter Grundschule ab. Elf Polizisten trainieren dort einen Einsatz, den sie hoffentlich niemals live erleben müssen. "Es handelt sich um eine Fortbildung zur Bewältigung von Amoklagen", erklärt Polizeitrainer Guido Händler.

Eine solche Weiterbildung ist seit 2003 in regelmäßigen Abständen für alle Polizisten, unabhängig von ihrem Dienstgrad, vorgeschrieben. Rund 2300 üben gruppenweise in Sommersdorf oder Gutenswegen. Für rund 700 Beamte aus der Altmark und Teilen der Börde heißt der Übungsort seit dem 1. April Lindstedt.

"Wir sind wirklich froh, dass wir das Schulhaus nutzen können." -
Pressesprecherin Tina Beck

Dass die Polizisten hier unter realistischen Bedingungen trainieren können, sei der Stadt Gardelegen zu verdanken, betont Pressesprecherin Tina Beck gestern. "Nach dem Schulamoklauf in Erfurt 2002 war der Landesregierung klar, dass soetwas auch trainiert werden muss. Es ist aber schwer, geeignete Objekte zu finden. Deshalb sind wir wirklich froh, dass wir das alte Schulgebäude dafür nutzen dürfen."

Dass es wichtig ist, den Kollegen eine wirklichkeitsnahe Trainingskulisse zu bieten, bestätigt auch Händler. "Die Übung soll eine reale Situation widerspiegeln", macht er klar. Und so finden sich die elf Polizisten - die gestern schließlich in Schutzkleidung in die eigentlichen Schulflure und Klassenräume vordringen - in einem Umfeld aus Schulbänken und kleinen Stühlen wieder, sehen sich Wandtafeln gegenüber, an denen mit Kinderhand Worte geschrieben sind. Bunte Bilder hängen an den Wänden, sogar ein Teddybär sitzt einsam auf einem Schrank an der Wand.

"Das Besondere am Amokläufer: Er nimmt seinen Tod in Kauf." - Polizeitrainer Guido Händler

Die unzähligen Patronenhülsen, die dazwischen überall auf dem Boden liegen, wirken völlig deplatziert. Doch es wird auch geschossen, in der leeren Schule. Zwar nicht mit den eigenen Dienstwaffen - die haben die Polizisten zwar dabei, sie sind für die Übung aber besonders gesichert - "um den Amokläufer zu stellen und handlungsunfähig zu machen, werden die Kollegen mit Farbmarkierungswaffen ausgestattet", erklärt Guido Händler. Und da jeder Polizist Patronen einer anderen Farbe bekommt, kann sich der Polizeitrainer und stellvertretende Leiter des Stützpunktes Stendal am Ende ein genaues Bild von den Abläufen in der Schule machen: "Man kann den Kollegen dann aufzeigen, wo die Probleme lagen. Alles andere wäre ja auch Augenwischerei." Insbesondere komme es auf die Eigensicherung an. Manch ein Farbklecks, sagt Händler schulterzuckend, "wäre in realer Situation eben auch ein echter Schulterschuss oder ein Schuss ins Bein".

Voller Farbe ist am Ende eines Übungstages dann aber vor allem immer Roland Gitter. Der Polizeiobermeister und Schießtrainer spielt in Lindstedt den Amokläufer und damit eine wirklich anspruchsvolle Rolle. Er muss den Täter nämlich nicht nur verkörpern, sondern in dessen Rolle schlüpfen.

"Bei einem Amokläufer dreht sich die Stressspirale immer wieder hoch und runter. Er hat aggressive, aber auch depressive Phasen", erklärt Guido Händler.

Zudem habe der Amoktäter nichts zu verlieren: "Das Besondere an ihm ist: Er nimmt seinen Tod in Kauf, entweder durch eigene Hand oder durch einen Polizisten, einen sogenannten `Suicid by Cop`"

Und genau diese Palette an zerrissenen Emotionen bietet Roland Gitter seinen Kollegen als "maskierter Täter in blauem Overall", indem er sich mal still verhält, dann aber plötzlich Schüsse abgibt oder Türen zuschlägt. Die beiden Beamten, die ihn während der Übung im Zweierteam finden und handlungsunfähig machen müssen, wissen dabei weder, wo er steckt, noch wie er reagiert. "Es gibt für sie immer wieder Überraschungen, ganz wie im Ernstfall", versichert Händler. Im Zusammenhang mit der schlechten Sicht durch die Schutzhelme und dem Bewusstsein, dass auch der "Täter" eine Farbmarkierungswaffe einsetzt, "sorgt das richtig für Stress."

Doch mit solchem umzugehen, die richtigen Entscheidungen auch unter Stress zu treffen, genau darum gehe es schließlich auch bei den Amokübungen, macht Händler klar. "Wir leben hier ja in einer friedlichen Gegend, aber auch bei uns kann eben niemand ausschließen, dass wir eine solche Situation mal bewältigen müssen."