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Joachim Zwing über einen Zwischenfall am 9. November 1989, der noch einmal glimpflich ausging Überraschender Besuch noch vor Mauerfall

Von Franziska Richter 10.11.2012, 02:10

Vor genau 23 Jahren fiel in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 die Mauer. In dieser Nacht ereignete sich auf dem Zerbster Flugplatz eine Geschichte, die symbolisch für die politische Situation in dieser geschichtsträchtigen Nacht ist.

Zerbst l Am Nachmittag des 9. November 1989 macht sich Hobbyflieger Henkel zu seinem täglichen Spazierflug auf. Er lebt im westdeutschen Duderstadt, wenige Kilometer von der deutsch-deutschen Grenze entfernt. Der ehemalige Pilot startet mit seiner Cessna vom dortigen Flugplatz. Das Wetter wird schlechter, irgendwann verliert Henkel die Orientierung. Statt nach Westen zu fliegen, bewegt sich das kleine Flugzeug weiter nach Osten. Er überfliegt militärisches Sperrgebiet. Irgendwann entschließt er sich zu landen, sieht einen kleinen Flugplatz. Es ist der von Zerbst.

Unten stehen russische MiGs, die Flugzeuge der sowjetische Armee, in Reih und Glied. Soldaten bewachen die Militärzone. Der Flughafen ist von den Russen besetzt. An anderen Tagen wären die sowjetischen Flieger direkt auf ihn losgegangen, er wäre noch in der Luft beschossen worden. Doch am Vorabend des Mauerfalls ist die politische Situation bereits gelockert. Henkel wagt das Unglaubliche: Er setzt auf dem Zerbster Flughafen inmitten sowjetischer Flieger auf, sofort umringt von russischen Soldaten. Die wissen keinen besseren Rat, als Henkel auf den Lkw zu setzen und ihn zur Polizeistation auf der Heide zu fahren.

Dort hat Joachim Zwing gerade Nachtdienst. Der Zerbster Polizeikommissar weiß zu diesem Zeitpunkt bereits von seinen Kollegen und Vorgesetzten, dass die Grenzen offen sind. Aber die Euphorie packt ihn vorerst nicht, er bleibt skeptisch. "Erst einmal abwarten. Mal sehen, wie es weitergeht", sagt er sich. Er spürt vor allem Ungewissheit: Was kommt jetzt?

Joachim Zwing informiert sofort seine Vorgesetzten in Berlin über den unerwarteten Besuch aus Westdeutschland. Die machen sich sofort auf den Weg, mit einem Mitarbeiter der Staatssicherheit. Während Joachim Zwing einen Kaffee kocht, kommt er mit Henkel ins Gespräch.

Offiziere aus Berlin kommen sofort nach Zerbst

"Ich bin einfach losgeflogen, habe dann Osten und Westen miteinander verwechselt. Von oben sieht der Himmel immer grau aus", erklärt der damals etwa 60-jährige Henkel. Joachim Zwing meint: Da habe er unheimliches Glück gehabt. Wäre es nicht gerade die heutige Nacht gewesen, hätte man sofort auf Henkel geschossen. Henkel ist erleichtert und möchte unbedingt seine Frau anrufen und Bescheid geben, wo er ist. "Lassen Sie mich doch bitte nur kurz anrufen", fleht Henkel mehrmals. "Ich darf westdeutsche Bürger nicht telefonieren lassen", muss Joachim Zwing sagen. Es tut ihm furchtbar leid.

DDR-Staat und BRD bestrafen mit hohen Geldbußen

Während die beiden Offiziere aus Berlin angekommen sind und Henkel verhören, besorgt Joachim Zwing Abendbrot und bereitet Betten in den Dienstzimmern der Polizei vor. Auch die Berliner Offiziere müssen die Nacht in Zerbst verbringen. Henkel kann ihnen nichts weiter sagen, als dass er sich einfach verflogen hat.

Am nächsten Morgen auf der Polizeistation: Henkel muss zurück über die Grenze, aber natürlich nicht per Flugzeug. Der Verleiher des Flugzeugs muss extra nach Zerbst kommen. Die Cessna wird auseinander gebaut und auf dem Tieflader in Einzelteilen zurück in westdeutsches Gebiet nach Duderstadt gefahren. Die beiden Offiziere bringen Henkel zur Grenze.

Wenige Tage später, die Mauer ist bereits gefallen, klingelt bei Joachim Zwing das Telefon: Henkel meldet sich. "Ich durfte nach Hause gehen. Aber ich muss eine Strafe wegen Grenzübertretung von 20000 Mark zahlen", erzählt er am Telefon. "Dagegen können Sie doch klagen, das müssen Sie nicht zahlen", rät ihm Joachim Zwing. Doch der vermögende Unternehmer hatte das Geld schon abgeschrieben. Er zahlte den Offizieren das Geld in bar und kümmerte sich nicht mehr darum. Über die Quittung, die er von ihnen bekommen hat, müssen Henkel und Zwing lachen. Auf einem ganz normalen Stück Papier war hingekritzelt, dass Henkel seine Schuld beim DDR-Staat gezahlt hatte. Aber auch die westdeutsche Seite straft Henkel noch ab. Das Gericht von Duderstadt verurteilte ihn zu einer Strafzahlung von 10000 D-Mark. Auch die zahlte der Unternehmer ohne mit der Wimper zu zucken.

Eine Woche später sitzt Joachim Zwing bei Henkel zum Kaffeetrinken in Duderstadt. Der Hobbyflieger hatte ihn und seine Frau zu sich nach Hause eingeladen. "Eine ganz neue Welt" ist das für Joachim Zwing. Er kannte ja nichts anderes als die DDR. Im westdeutschen Gebiet eröffnet sich eine Welt des Konsums. Da fuhren Automodelle auf der Straße, die er noch nie zuvor gesehen hatte. In den Supermärkten sieht er zum ersten Mal einen Einkaufswagen.

Henkel schlägt ihm vor, gleich dort zu bleiben und sich eine neue Existenz aufzubauen. Aber das schlägt Zwing aus. "Ich will in Zerbst bleiben", sagt er. Doch die Wende bringt auch Schattenseiten mit sich. "Wir können Sie nicht verbeamten", hören Zwing und seine vier Kollegen vom Zerbster Polizeikommissariat. Der ehemalige Zerbster Hauptkommissar darf nicht mehr arbeiten. Aber er hat Glück: Eine Privatdetektei in Braunschweig will von seinem Fachwissen profitieren. Bis zur Rente pendelt der heute 79-Jährige nach Braunschweig und schult junge Privatdetektive in Sachen Ermittlungsarbeit.

Die Geschichte von Henkel, der mit seiner Cessna inmitten von sowjetischen Jagdfliegern auf dem Zerbster Flughafen landete, brennt ihm bis heute unter den Nägeln. "Zum Jubiläum des deutschen Mauerfalls wollte ich sie jetzt endlich mal erzählen", sagt Joachim Zwing als er gestern die Redaktion der Zerbster Volksstimme aufsuchte.