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1790 in Magdeburg erfundene "Rechenmaschine" macht Karriere in Sachsen-Anhalt / Zwei Elbestädter verbreiten Wissenschaftsgeschichte Der Mathematik-Professor, der Ingenieur und die Wiedergeburt der Grusonschen Rechenscheibe

Von Karl-Heinz Kaiser 09.12.2011, 04:22

Die Kandidaten für den Titel "Magdeburger des Jahres 2011" sind nominiert. Heute im Porträt: Prof. (em.) Dr. Karl Manteuffel und Dr.-Ing. Hans-Günter Becker. Der eine gilt als theoretischer Kopf bei der Wiederentdeckung der Gruson-Scheibe, einer der ersten "Rechenmaschinen" der Welt. Der andere hat sie konstruiert - aus dem Nichts heraus.

Magdeburg l Die einen sagen - wegen Form und Durchmesser (22 cm) - ehrfürchtig-salopp Grusonscher Teller. Andere bezeichnen die drehbare Scheibe wissenschaftlich-präzise als erste "Rechenmaschine" der Welt. Die dritte Gruppe hält sie für ein nostalgisch-niveauvolles Spielzeug im Zeitalter der Computer. Eine vierte Fraktion schließlich spricht von einem wertvollen pädagogisch-didaktischen Lehr- und Anschauungsmittel mit reizvollem historischen Hintergrund.

Zwei Elbestädter lassen mindestens alle vier Bewertungen für die Grusonsche "Mechanische Rechenmaschine" gelten: Karl Manteuffel (87), Wiederentdecker und theoretischer Wegbereiter dafür, sowie Hans-Günter Becker (69), Ingenieur und Unternehmer. Beide zeichnen verantwortlich für das örtliche "Comeback" einer 1790 vom angesehenen Magdeburger Mathematiker Johann Philipp Gruson kreierten und damals sensationellen Erfindung.

Die habe seinerzeit durchaus eingeschlagen - auch in der beginnenden Industrialisierung, sagt Manteuffel.

Erfinderschicksal: Alle (lokale) Welt spricht (zu Recht) vom Gewächshausstifter Gruson. Dessen Großonkel, der Mathematiker Johann Philipp, sowie dessen Erfindung aber gerieten (zu Unrecht) fast in Vergessenheit.

Das ist jetzt ganz anders geworden - dank dem emeritierten Uni-Mathe-Professor, jahrzehntelang Lehrstuhlinhaber und Dekan der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät, Karl Manteuffel, und seinem ehemaligen Hilfsassistenten, Hans-Günter Becker, engagierter Unternehmer in und für Magdeburg.

Alles begann in den späten achtziger Jahren, als Manteuffel, selbst Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher Bücher einschließlich lizenzierter Lehrbücher, per Zufall (Nr. 1) auf Grusons "Wunderscheibe" stieß. Der gleichermaßen an der Geschichte Magdeburgs interessierte Karl Manteuffel war fasziniert.

Die Trauben hingen hoch: Mehr als ein Jahrzehnt fahndete er vergeblich nach einem Original. Zufall Nummer 2: Der Professor traf seinen einstigen Hilfsassistenten wieder. Der begabte Ingenieur und Firmeninhaber fing gleichfalls Feuer. Er machte an dem Punkt weiter, wo die Doktoren Konrad Pusch und Reinhard Buchheim schon angesetzt hatten. Becker tüftelte selbst in Nächten, wie die von Karl Manteuffel erstellten wissenschaftlichen Vorlagen praktisch umgesetzt werden konnten.

Heureka!

Am 15. Oktober 2010, nach zwei Jahren Zusammenarbeit, wurde die fertige und funktionsfähige Grusonsche Rechenscheibe erstmals der Öffentlichkeit in der Volksstimme vorgestellt. Aus Alu, aus Kunststoff, in verschiedenen Größen gefertigt. Als touristisches Magdeburg-Souvenir, als Lehr- und Anschauungsmittel.

Der eigentliche Siegeszug jedoch begann 2011. Erst dann konnte die Herstellung so weit vorangetrieben werden, um den Bedarf abzudecken. Die Nachfrage war groß, berichteten beide. Bei der Tourist-Information entstanden Wartelisten. "Aber es ging uns ja nicht um den kommerziellen Gedanken", sagte Prof. Manteuffel. Die Rechenscheibe sei ein gewichtiges Stück Heimat- und Wissenschaftsgeschichte. Der Professor weiter: Guericke kennt jeder, klar. Den Mathematiker Gruson, Verfasser von 43 bedeutenden Werken, und andere große Wissenschaftler kaum jemand.

"Deshalb ist es von vornherein unsere Absicht gewesen, Gymnasien mit Exemplaren auszustatten", erklärte er. Zuerst waren die Rechenscheiben dem Siemens- und Norbertusgymnasium übergeben worden. Andere, die erst zurückhaltend reagiert hatten, signalisierten mit einem Schlag gesteigertes Interesse. Begleithefte wurden ausgearbeitet, mit denen sich den Schülern die Anwendung der Rechenscheibe erschließt.

Die Bedienung allein ist eine knifflige, aber lehrreiche Arbeit. Sie trage zum Verständnis für Zahlen und zur Beschäftigung mit ihnen bei. Letzteres sei immer Beschäftigung mit der Kulturgeschichte, sagte Manteuffel. Und: Ein Verrechnen um 45 Milliarden Euro - mit der Scheibe wäre das nicht passiert, kommentierte Mathe-Enthusiast Manteuffel mit einer Portion Ironie einen aufsehenerregenden Banken-Fauxpas der letzten Zeit.

Aber zur Gruson-Scheibe: Bis auf das Einsteingymnasium verfügen alle hiesigen Gymnasien über diese "Rechenmaschine". Möglich wurde das durch Sponsoren wie die Stadtsparkasse. Das Technikmuseum hat eine Scheibe im Fundus, an einer im Großformat (132 Zentimeter Durchmesser) wird gearbeitet. Sie wird 2012 im Jahrtausendturm etabliert.

Waisenkind Hans-Günter Becker, der in Magdeburg bei der Unternehmerfamilie Ewald Becker aufgewachsen ist, hat an der damaligen TH studiert, war später Direktor von Esparma. Karl Manteuffels Karriere vollzog sich an der Hochschule für Maschinenbau und späteren Otto-von-Guericke-Uni. Beide sind verheiratet, haben Enkel, sind ehrenamtlich engagiert. Becker als Vorsitzender des Vereins Freunde und Förderer der HNO, Uni-Klinikum. Manteuffel hält Vorträge bei gesellschaftlichen Anlässen.

Die von ihnen kreierte Rechenscheibe aus dem 18. Jahrhundert beginnt ganz Sachsen-Anhalt zu erobern. Aus Calbe, aus Halle und anderen Städten gebe es Anforderungen, weiß Hans-Günter Becker. Die neueste Nachricht kam gestern: Die Rechenscheibe hat beim mitteldeutschen Historiker-Wettbewerb um den Krostitzer Ring einen Preis gewonnen.

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