1. Startseite
  2. >
  3. Sachsen-Anhalt
  4. >
  5. Gemeinschaftsschule: Versuch macht klug

Die politisch umstrittene Schulform ist angelaufen - und zeigt verblüffende Ergebnisse. Gemeinschaftsschule: Versuch macht klug

430 Kinder in Sachsen-Anhalt erproben die neue Schulform
Gemeinschaftsschule. Neuland ist das auch für ihre Lehrer. Viele werfen
ihre alten Konzepte über Bord.

Von Hagen Eichler 11.12.2013, 02:10

Seehausen. Axel Giebe wundert sich über die Ruhe. Jahrelang begann jeder Schultag mit Johlen und Schreien, die Kinder tobten durch das säulenbesetzte Portal und durch die Flure des alten Backsteinbaus im altmärkischen Seehausen. Jetzt sitzt der Direktor in seinem Dienstzimmer in der dritten Etage und horcht ins Haus, während unten die neuen Fünftklässler in ihre Klassenzimmer strömen. "Sonst war hier Waldbadatmosphäre, aber jetzt ist Ruhe hineingekommen", staunt Giebe.

Dabei hat sich an der Zusammensetzung der Schüler gar nicht viel getan. Die 33 Neuankömmlinge haben vor allem ein anderes Etikett bekommen: Sie sind die ersten Schüler der neugegründeten Gemeinschaftsschule.

Seit gut drei Monaten läuft der Unterricht in der Schulform, die politisch heftig umstritten war. Außen am Gebäude gibt es noch nicht einmal ein repräsentatives Schild, das den Neuanfang anzeigt. Drinnen aber, im Klassenzimmer, hängt an der Wand der Grund, warum der Schuldirektor in diesem Gebäudeflügel kaum noch Lärm hört. Es ist ein Plakat mit den Klassenregeln. "Leise, freundlich, friedlich, langsam, nicht anfassen." Auch die letzte Aufforderung wird ernst genommen: Die Schüler dürfen sich tatsächlich nicht mehr berühren.

"Das Anfass-Verbot hat viele Konflikte herausgenommen."

Klassenlehrerin Petra Schmidt

Der elfjährige Alexander Bertleff, der gerade für die Projektwoche Wölfe neben einen Waldsee tuscht, weiß, dass seine Klasse etwas Besonderes ist. "Wir haben andere Regeln als die anderen", sagt er. Das Berührungsverbot soll einen Sicherheitsabstand zwischen den Kindern errichten. Rangeln, Schubsen oder gar Schlagen und Treten sind tabu. Abgeguckt hat sich die Schule das bei einer Gemeinschaftsschule in Kassel. Petra Schmidt, langjährige Sekundarschullehrerin, arbeitet zum ersten Mal nach diesem Konzept. "Dass sich die Kinder nicht mehr anfassen, hat unwahrscheinlich viel Konfliktpotenzial herausgenommen", sagt sie.

Für die Schule ist die Verhaltensänderung der Schüler so verblüffend, dass der eigentliche Kern der Reform fast in den Hintergrund gerät: In dieser Schule lernen Kinder miteinander, die sonst auf verschiedene Schulformen aufgeteilt worden wären. Die zehnjährige Sophie Bergemann etwa hat die Empfehlung fürs Gymnasium. Ihre Banknachbarin Sophie Tschiersch, ebenfalls zehn Jahre alt, sollte auf die Sekundarschule. Jetzt malen die beiden einträchtig nebeneinander ein Bild. Bis zum Ende der achten Klasse haben sie Zeit, ihre Fähigkeiten und Neigungen zu erkunden. Erst danach beginnt der Unterricht mit unterschiedlich hohen Anforderungen, der zu verschiedenen Schulabschlüssen führt.

Die meisten Gemeinschaftsschüler haben die Sekundarschulempfehlung, es sind 27 von den 33 Kindern. Nur fünf sollten aufs Gymnasium, ein Kind ist Förderschüler. Doch das Umfirmieren hat etwas ausgelöst. Die beteiligten Lehrer sind bereit, Neues auszuprobieren. Dinge wie die Projektwoche zum Thema Märchen. Die Kinder erfahren, woran man ein Märchen erkennt, sie basteln aus Pappkartons ein Märchenschloss und bekleben die Mauer mit Plastikrosen. An einem Tag kommt der Wolfsbeauftragte und erklärt, warum Isegrim im Märchen so einen schlechten Ruf hat, tatsächlich aber ganz anders ist.

"Es fühlt sich an, als würden wir selbst noch einmal eingeschult."

Klassenlehrerin Ramona Reck

Freiwillig setzen sich die beiden Klassenlehrerinnen jede Woche zusammen, um ihre Ideen auszutauschen. "Es fühlt sich an, als würden wir selbst noch einmal eingeschult", sagt Ramona Reck, Klassenlehrerin der 5b. Beide wollen weg vom Unterricht, wie sie ihn bislang gehalten haben. "Wir überlegen, wie wir eine harmonische Atmosphäre schaffen können und den Kindern Lernfreude nahebringen." Dazu gehört auch der Morgenkreis, zu dem sich die Kinder dreimal wöchentlich versammeln. Einer der Schüler spricht dabei über ein selbstgewähltes Thema, etwa das Lieblingstier. Es geht um die Recherche von Wissen, um die interessante Präsentation, die freie Rede vor anderen. Ein anderer Schüler schlüpft währenddessen in die Lehrerrolle. Als "Präsident" achtet er auf die vorgegebene Zeit, mahnt zur Ruhe.

Schuldirektor Giebe sieht mit Erstaunen, wie altgediente Pädagogen neue Konzepte erproben, Kinder zu Selbständigkeit ermutigen. "Man merkt schon jetzt, dass die Kinder viel flüssiger reden", sagt Giebe. Offenbar habe sich die Schule bislang zu sehr auf die Weitergabe von Fachwissen konzentriert.

Dabei hätte noch vor einem Jahr niemand vermutet, dass hier ein pädagogisches Experiment beginnen würde. Der Anstoß kam von Eltern. "Warum erzählen Sie uns nichts von der neuen Gemeinschaftsschule?", wollte eine Mutter von Giebe wissen. Der holte sich in Magdeburg erst einmal Informationen. Dann machte er ein Angebot: Wenn die Anmeldungen von 35 Kindern zusammenkämen, würde er ein Konzept schreiben und die Anerkennung als Gemeinschaftsschule beantragen. Eine Woche vor Weihnachten lag die Unterschriftenliste vor ihm.

Kinder, die von den Leistungen her klar aufs Abitur zusteuern, werden auch künftig aufs Gymnasium nach Osterburg wechseln, ist Giebe überzeugt. Die Gemeinschaftsschule sei aber für diejenigen interessant, bei denen die Schulkarriere weniger eindeutig sei. "Wackelkandidaten", sagt der Direktor, "oft Jungs". Statt im Gymnasium zu scheitern und am Ende frustriert in der Sekundarschule zu landen, könnten die Schüler Freude am Lernen entwickeln und den Weg zum Abitur offenhalten.

Viele Bürgermeister im Land dürften sich noch andere Gedanken machen. Seehausen hat bereits vor Jahren das Gymnasium verloren. Geblieben ist der Kleinstadt eine einzige weiterführende Schule - bei sinkenden Schülerzahlen ist auch sie bedroht. Gelingt es der Gemeinschaftsschule, zusätzliche Schüler anzuziehen, könnte das einen wichtigen Teil der städtischen Infrastruktur retten. "Wenn die Schule einfach weitergemacht hätte, hätte sie vielleicht in vier, fünf Jahren auf der Kippe gestanden", sagt Seehausens Bürgermeister Detlef Neumann.

20 Kilometer westlich liegt die Fontane-Sekundarschule Arendsee. In dem stattlichen gelben Gebäude grübelt Schulleiter Klaus-Dieter Leppin über die Entwicklung des Schulsystems. In den 1960er Jahren hat er hier selbst die Schulbank gedrückt, bis zur achten Klasse in der Polytechnischen Oberschule, dann wechselte er in die Oberschule. Später verlängerte die DDR das gemeinsame Lernen sogar bis Klasse 10. "Davon ist keiner dümmer geworden", sagt Leppin.

Er verweist auf Studien, wonach auch kluge Schüler profitieren, weil sie anderen den Stoff erklären. Im kommenden Jahr soll auch die Fontane-Schule Gemeinschaftsschule werden. Der Beschluss der Gesamtkonferenz fiel einstimmig.

"Das ist wohl der einzige Weg, Schulen auf dem Land zu erhalten."

Reinhard Luckner, Bürgermeister Egeln

Nicht überall läuft das so reibungslos. In Egeln (Anhalt-Bitterfeld) stand eine angehende Gemeinschaftsschule vor der Wahl, welches Gymnasium sie als Kooperationspartner für den Weg zum Abitur auswählt. Die Entscheidung fiel erst für Egeln, dann für Staßfurt - zum Ärger des unterlegenen Gymnasiums, das wegen Schülermangels vor der Schließung steht.

Egelns enttäuschter Bürgermeister Reinhard Luckner kann nicht verstehen, dass das Gesetz Kooperationspartner in einer anderen Stadt erlaubt. Zum Konzept des gemeinsamen Lernens sieht er allerdings keine Alternative: "Das ist wohl der einzige Weg, Schulen im ländlichen Raum zu erhalten."