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Magdeburger Sexberater Wieso Frauen oft keine Lust haben

17.07.2015, 00:58

Ihm vertrauen Frauen seit Jahrzehnten ihre intimsten Probleme an: Der Magdeburger Professor Hans-Joachim Ahrendt ist nicht nur Gynäkologe, sondern auch Sexualberater. Im Volksstimme-Interview mit Reporterin Elisa Sowieja verrät er, wie häufig Frauen Sorgen plage, und warum viele keine Lust auf Sex haben.

Volksstimme: Herr Professor Ahrendt, auf der Internetseite des Dr.-Sommer-Teams der Bravo geht es aktuell um Kusstechniken, Selbstbefriedigung und Fehler beim ersten Mal. Es scheint, als hätten sich die Fragen der Jugendlichen seit Jahrzehnten nicht verändert.
Hans-Joachim Ahrendt: Die Fragen sind die Gleichen wie damals. Die Jugendlichen heute haben schließlich dieselben Gefühle wie die Jugendlichen in den 90er Jahren.

Der Umgang mit den Fragen scheint sich allerdings verändert zu haben: Zu Sexstellungen gab`s auf der Dr.-Sommer-Seite sogar ein Vorführ-Video.
Generell ist der Umgang mit Sexualität offener geworden. Ein Grund sind die neuen Medien: Auf Facebook und Youtube ist beispielsweise die Sprache lockerer. Außerdem beobachte ich in meinen Beratungen, dass Fragen heute früher gestellt werden.

Wie oft stellen Frauen Fragen?
Im Rahmen einer Studie haben die Kollegin Dr. Cornelia Friedrich in Köthen und ich in Magdeburg 4096 Frauen im Alter von unter 20 bis 60 Jahren in unserer gynäkologischen Sprechstunde hinsichtlich möglicher sexueller Fragen und Probleme befragt. Fast zwei Drittel dieser Frauen hatte Fragen zur Sexualität. Mehr als die Hälfte stellte sie von sich aus, die anderen bei Nachfrage.

Zwei Drittel sind eine Menge. Woran liegt das?
Im Osten Deutschlands stellen Frauen häufiger von sich aus Fragen zur Sexualität als im Westen. Sie gehen pragmatischer mit Sexualität um. Das hängt unter anderem zusammen mit der Sozialisaton, etwa Erziehung und sozialer Situation. Unabhängig davon wird das Thema Sex immer stärker in den Medien thematisiert.

Sie meinen Filme und Werbung mit viel nackter Haut?
Nein, sexistische Darstellungen wirken auf Frauen eher abstoßend. Ich meine eher, dass es etwa in Filmen selbstverständlich ist, über Sex offen zu reden. Der eine mag es soft, der andere mag es mit der Peitsche, das kann man alles sagen.

Wie oft kommen denn Frauen in Ihre Sprechstunde, die in erster Linie über Sex-Probleme reden wollen?
Das passiert weniger häufig. Meist sprechen die Frauen ihre Probleme bei der normalen Untersuchung nebenbei an. Vieles kann man gleich klären. Einigen empfehle ich, die eigene spezielle Sexualberatung aufzusuchen, in der Frauen eine vertiefende Beratung von bis zu 45 Minuten angeboten wird. Diese Kosten müssen die Patientinnen allerdings selbst tragen.

Mit welchem Problem kommen Frauen am häufigsten zu Ihnen?
Viele klagen über eine sogenannte sexuelle Appetenzstörung, also Unlust. In unserer Studie gaben 14 Prozent aus allen Altersgruppen solche Probleme an. Mitte der 1970er Jahre waren das deutlich weniger Frauen.

Wie erklären Sie sich diese Entwicklung?
Unter anderem war hier die Einführung der Pille von entscheidender Bedeutung. Bis Ende der 60er war die sexuelle Unlust wesentlich beeinflusst vor der Angst einer unerwünschten Schwangerschaft. Häufig starben sogar Frauen, die sich zum Zwecke des Schwangerschaftsabbruches Stricknadeln oder Seifenlösungen in die Gebärmutter eingeführt hatten. Mit der Pille änderte sich das. Plötzlich konnte sich die Frau meist sorgenfrei der Sexualität hingeben und empfand demnach mehr Lust. Diese neue Freiheit führte dann aber zu einem Anspruchsdenken, immer über eine große Lust zu verfügen und immer einen Orgasmus erreichen zu müssen, woraus bis heute oft Unzufriedenheit erwächst. Dabei ist dies gar nicht jeder Frau möglich.

Warum?
Nicht jeder kann den gleichen Level an Lust erreichen, da jeder eine andere sexuelle Prägung besitzt. Man muss sich das wie bei einer Leiter vorstellen. Manche sitzen auf einer unteren Sprosse, haben also weniger Lust und sind dann meist auch weniger sexuell erregbar, andere dagegen sitzen ganz oben auf der Libido-Leiter. Diese Situation verändert sich dann meist nur unerheblich.

Worin liegen die Ursachen für einen Mangel an sexueller Lust?
Neben hormonellen spielen unter anderem die partnerbezogenen Faktoren eine wichtige Rolle. Der größte Gegner der sexuellen Lust ist jedoch die Angst, vor allem vor Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Diese wiederum kann durch gynäkologische Organerkrankungen oder auch durch Unkenntnisse über die sexuellen Reaktionen bedingt sein.

Inwiefern durch Unkenntnis?
Vielen ist nicht bewusst, dass Männer und Frauen eine unterschiedliche Sexualität haben. Männern reicht oft der Anblick einer sexy Frau für eine Erektion aus. Frauen müssen sich rundum wohlfühlen und in ihrer Partnerschaft glücklich sein, damit sie auf sexuelle Stimulierung anspringen.

Dann sollte der Mann also öfter kuscheln?
Im Prinzip schon. Aber auch der Mechanismus, der bei solchen Paaren immer wieder abläuft, ist ihnen nicht bewusst. Frauen reagieren meist schon bei Umarmungen nach dem Motto "Wehret den Anfängen". Sie denken: Wenn der erst in Gange kommt, kann man ihn nicht mehr stoppen. Das mag auch so sein, aber er weiß es nicht. Ihr wiederum ist nicht klar, dass der Mann bereit wäre, beim Kuscheln auch mal auf Sex zu verzichten. Darüber muss das Paar reden!

Wie helfen Sie diesen Paaren?
Oft gibt es nicht die Hilfe, die sich Frauen erhoffen. Daher muss man zunächst unrealistische Erwartungen abbauen, indem man etwa klarstellt, dass Frauen nicht immer einen Orgasmus haben. Ist der Partner bei der Beratung anwesend, ist eine gemeinsame Lösung meist besser zu erreichen. Vor allem ist da die Frage nach der Libido-Ausgangssituation zu stellen, ich frage zum Beispiel: Wie oft haben sie Geschlechtsverkehr pro Woche und war das schon immer so? Träumen sie oft von Sex?

Wie geht es weiter?
Das weitere Vorgehen muss individuell besprochen werden. In den Beratungen muss klar werden, dass es niemanden gibt, der über keine sexuelle Lust verfügt. Aber nicht alle wünschen sich täglich vaginalen Geschlechtsverkehr, manche bevorzugen verbale und körperliche Liebkosungen. Wenn dem Partner klar ist, dass die Ablehnung körperlicher Annäherung nur dem Vermeiden von Geschlechtsverkehr dient, werden unter anderem Spielregeln des sexuellen Austausches besprochen. Eine Regel kann ein vorübergehendes Verbot von Geschlechtsverkehr darstellen. Ebenso wird gemeinsam festgelegt, welche Art von Sexualität sich die Frau wünscht: Wo möchte sie zärtlich berührt werden und wo nicht? Wenn das beide wissen, wird die Frau keine Angst mehr haben, dass ihr Partner bei jeder körperlichen Annäherung Geschlechtsverkehr anstrebt. Sie kann sich fallenlassen. Ein erster Schritt ist damit getan.

Viele haben das Gefühl, das Arbeitsleben wird immer stressiger. Ist das auch ein Grund für zunehmende Unlust bei Frauen?
Auch bei Stress, gleich welcher Ursache, hängt Lust von der Prägung ab. Wer oben auf der Leiter sitzt, sagt nach zwölf Stunden Arbeit: "Ich bin ganz schön müde, aber Sex muss sein." Wer unten sitzt, sagt auch nach vier Stunden: "Ich hatte solchen Stress, ich will jetzt nicht."

Sie sprachen eben die Orgasmen an. Wie viele Frauen haben ein Problem damit?
In unserer Studie haben nur 0,6 Prozent der Frauen eine Orgasmusstörung als vordergründiges Problem angesprochen. Diese Zahl ist natürlich viel größer. Die meisten Frauen gaben jedoch eine zu geringe sexuelle Lust an, woraus dann meist eine verminderte Erregung und ein ausbleibender Orgasmus folgen. Dies betrifft Frauen aller Altersgruppen.

In den USA wird derzeit eine Art Viagra für die Frau getestet. Was halten Sie davon?
Ich halte jede Möglichkeit, einem Paar unter Einbeziehung verschiedener Methoden zu einer guten und befriedigenden Sexualität zu verhelfen, für sinnvoll und wichtig. Wir selbst als Zentrum für sexuelle Gesundheit und klinische Forschung wirken an vielen dieser Studien mit.

Etwas Persönliches zum Schluss: Bei welcher Frage in einer Beratung ist Ihnen zuletzt die Schamesröte ins Gesicht gestiegen?
Ich kann mich nicht erinnern, dass das jemals der Fall war.