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Der 98-jährige Gerhard Richter erlebte als Jugendlicher die Machtergreifung der Nationalsozialisten und deren Folgen vor 80 Jahren in Magdeburg "Es herrschte die pure Angst, angeschwärzt und abgeholt zu werden"

30.01.2013, 01:15

Gerhard Richter (Jahrgang 1915) ist einer der letzten lebenden Zeitzeugen, die vom Ende der Weimarer Republik berichten können. Mit dem aus Magdeburg stammenden und heute in Berlin lebenden 98-Jährigen hat Christian Soyke gesprochen.

Volksstimme: Heute vor 80 Jahren ernannte Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Sie waren damals 18 Jahre alt. Können Sie sich an diesen Tag erinnern?

Gerhard Richter: Meine Mutter saß am Radio und hörte ganz konzentriert, was da passierte. Ich höre es noch heute, wie sie sagte: "Der alte Hindenburg ist doch ein ganz seniler Greis! Dass der sowas noch bestimmen kann." Mein Vater meinte vorahnungsvoll: "Jetzt fehlt nur noch, dass die Parteien verboten werden." So kam es dann ja auch.

Volksstimme: Der Sport hatte für Sie eine besondere Bedeutung. Was hat sich nach der Machtergreifung verändert?

Richter: Dadurch, dass mein Verein "Vorwärts Magdeburg-Fermersleben" der SPD nahe stand, war es für uns eine ganz große Enttäuschung, dass auf einmal Hitler und die Nazis an die Macht kamen. Als Jugendliche hatten wir ja noch Reklame für die SPD gemacht. Alle Sportvereine und Verbände, die nicht auf Linie waren, wurden sofort verboten. Mit einem Mal war vor allem die SA überall sehr präsent.

Volksstimme: Wie haben Sie darauf reagiert?

Richter: Das musste man akzeptieren, ob wir wollten oder nicht. Als junge Dachse hatten wir in erster Linie Sport im Sinn. Das war dann beim bürgerlichen Männerturnverein MTV möglich, weil dessen Vereinsführung der NSDAP beigetreten war, so dass der Verein weiter bestehen durfte. Eines Tages kamen zwei Männer in eine Turnübungsstunde und es hieß, in der SA sei ein sogenannter Turnersturm gegründet worden. Wir haben uns zunächst alle geweigert.Der leichte Widerstand wurde aber irgendwann mehr und mehr gebrochen. Wir wollten Sport treiben. Da mussten wir dann dummerweise auch den Hitler-Gruß machen. Niemand konnte sich erlauben, sich dem komplett zu verweigern. Viele hoben also mehr oder weniger widerwillig die rechte Hand.

Volksstimme: Es gab auch einen jüdischen Sportverein, JTSV Bar Kochba Magdeburg ...

Richter: Mein älterer Bruder Kurt war sogar mit dem Vorsitzenden des Vereins, Jochen Freiberg, befreundet, der ein Lederwarengeschäft in der Magdeburger Innenstadt hatte. Später kam es dann so, dass mein Bruder den Jochen warnen musste: "Jochen, es wird Zeit, du haust ab!" Das hat er dann getan. Er konnte gerade noch rechtzeitig nach Australien flüchten.

Volksstimme: Sie waren aktiv im CVJM, dem Christlichen Verein Junger Menschen. Was veränderte sich für ihn?

Richter: Im Zuge dieser Gleichschaltung wurden massive Einschränkungen für christliche Verbände wie CVJM oder katholische Jugend durchgesetzt. Ich weiß noch, wie unser Pastor feststellte: "Den Gläubigen, die jetzt in die Kirche kommen, denen darf ich nichts mehr gegen den Hitler sagen." Alle mussten sehr vorsichtig sein.

Volksstimme: Wie erklären Sie sich diesen radikalen Wandel?

Richter: Die Wirtschaftskrise und die Massenarbeitslosigkeit in der Weimarer Republik haben wesentlich dazu beigetragen, dass eine Arbeiterstadt wie Magdeburg mit großen Fabriken mehr und mehr zersetzt wurde. Ich kann nur eines sagen: Die Stimmung in der Stadt und besonders in den umliegenden Dörfern war plötzlich sehr stark pro SA und NSDAP. Die Lage war schnell schlechter geworden, weil immer wieder Leute abgeholt wurden, wie man sagte. Als die dann irgendwann wieder zurückkamen, waren sie nicht sonderlich gesprächig - sie hatten offenbar Schreckliches erlebt und waren massiv eingeschüchtert. Es herrschte die pure Angst, angeschwärzt und abgeholt zu werden oder den Arbeitsplatz zu verlieren. Man musste immer aufpassen, was man sagte. Die Stimmung war ganz deprimierend und vergiftet.

Volksstimme: Wie haben Sie die Jahre bis 1945 erlebt und überstanden?

Richter: Das Schlimmste für mich war die Verpflichtung zum Reichsarbeitsdienst 1936 und dann 1937 der Einzug als Soldat. Ich habe alles miterlebt, war als Soldat in Holland, Belgien, Frankreich, Polen, Jugoslawien, Rumänien, Russland und am Kaukasus. An Stalingrad bin ich glücklicherweise vorbeigekommen. Das kann ich Ihnen sagen: Der Tischler in unserer Kompanie musste viele Holzkreuze fertigen! Die Toten, die wir bergen konnten, haben ihr Kreuz und Grab gekriegt. Und weil ich Kunstschrift konnte, habe ich alle diese Kreuze beschriftet. Außerdem habe ich Andachten gehalten. Ich sah es als meine Pflicht. Die Gefallenen sollten wenigstens ein Begräbnis haben und nicht einfach auf der Straße liegenbleiben. Bei der fürchterlichen Flut von Toten habe ich den Glauben an Gott fast verloren. Wiedergefunden habe ich ihn erst richtig, als ich merkte, dass ich wie durch ein Wunder all das überlebt hatte. Manchmal denke ich: Gott hat schützend seine Hand über mich gehalten.

Volksstimme: Welche Lehren ziehen Sie aus der NS-Geschichte?

Richter: Ich habe erlebt, wie Menschen einseitig und vernarrt in eine Richtung marschierten. Das lehne ich ab. Das macht blind und fanatisch. Deshalb bin ich auch bei Nacht und Nebel 1955 aus der DDR abgehauen. Ich wollte nicht von der einen Diktatur in die nächste! Die Demokratie zu schätzen und zu schützen - das ist für mich die größte Lehre aus der deutschen Geschichte. Wir sind doch alle Menschen und müssen einander achten und respektieren. Darauf kommt es an. Ich kann nicht sagen: Ich will leben. Sondern: Wir wollen leben - gemeinsam, frei und friedlich.