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Halle-Attentat Dramatische Augenblicke in Halle

Beim elften Prozesstag am Magdeburger Landgericht berichten Zeugen von den dramatischen Augenblicken ihres Überlebens im Kiez-Döner.

Von Matthias Fricke 09.09.2020, 19:00

Magdeburg l Am Döner-Imbiss in der Ludwig-Wucherer-Straße taucht am 9. Oktober um 12.09 Uhr ein schwer bewaffneter Mann auf. Zunächst nimmt ihn niemand ernst. Einige denken an Fasching, ein anderer Zeuge spricht am gestrigen elften Prozesstag gegen den Halle-Attentäter vom verfrühten Halloweenscherz. Dass er nur Minuten zuvor die 40-jährige Jana L. auf der Straße vor der Synagoge erschossen hat, weiß zu dem Zeitpunkt niemand.

Eine Minute nach seinem Eintreffen am Kiez-Döner zündet Stephan B. eine mit Nägeln selbstgebaute Splittergranate. Da befindet sich eine 78-jährige Hallenserin gerade in Höhe des Attentäters. Sie erinnert sich: „Ich konnte das alles erst gar nicht einordnen.“ Das Ding in seiner Hand und die Uniform habe sie eher an Fasching erinnert. Dann gibt es einen lauten Knall und die Rentnerin, die gerade von einem Arztbesuch kommt, verspürt einen starken Schmerz im Fuß. Sie geht dennoch weiter, weil die Frau es langsam mit der Angst zu tun bekommt. Nach etwa 500 Metern dreht sie sich vorsichtig wieder um und geht in eine Apotheke.

Dort erfährt sie von einem Schusswechsel. Erst zu Hause sieht sie die Verletzung am Fuß und findet noch einen weiteren Nagel in der Schuhlasche. Nach einer Untersuchung im Krankenhaus und der Vernehmung durch die Polizei ist sie an diesem Tag erst um 22.15 Uhr zu Hause. Dann wird ihr langsam das Ausmaß klar. Sie sagt: „Im Nachhinein muss ich sagen, das war mein zweiter Geburtstag.“ Experten schätzen später die Wirkung der Sprengvorrichtung als potenziell tödlich ein.

Nur Sekunden nach dem Explodieren der Granate, von der die Rentnerin verletzt wurde, eröffnet Stephan B. das Feuer im Imbiss. Mehrere Gäste befinden sich darin. Einer von ihnen ist Prof. Bernd H. Er wollte nur kurz etwas essen, bevor er später zu einer Konferenz muss. Der 74-Jährige beschreibt die Situation so: „Ich dachte erst, welcher Idiot zündet dort einen Polenböller.“ Dann splittert das Fenster und der Döner-Betreiber macht einen Hechtsprung zur Seite. Erst denkt der Wissenschaftler an einen vorgezogenen Halloweenscherz, auch wegen des „Helms des Attentäters, der eher einem angemalten Bauarbeiterhelm glich“.

Dann merkt er aber, dass alles todernst ist. Einer der Gäste, ein Maler, schreit nur: „Raus hier, der bringt uns alle um!“ Dass Stephan B. auf ihn zielt und zweimal abdrückt, sieht er nicht. Sein Glück ist die Ladehemmung der Waffe. Der Professor läuft nach hinten, etwa fünf bis sechs Treppenstufen hoch. Er wird dann von dem Maler überholt.

Der öffnet eine Tür zum Abstellraum und springt aus dem Fenster über eine 120-Liter-Mülltonne auf den etwa 2,50 Meter tiefer gelegenen Innenhof. Der Professor folgt ihm, rutscht auf der Mülltonne mit seinen Schuhen ab und stürzt auf die linke Seite. Er zieht sich eine Rippenprellung zu, muss eine Woche lang Schmerzmittel nehmen.

Im Gericht sagt der Ruheständler: „Ich hatte furchtbare Angst, dass der Attentäter nachkommt.“ Er habe im Innenhof noch aus dem Gastraum gehört: „Nein, bitte nicht schießen.“ Der Wissenschaftler lässt sich später von seinem zufällig in der Nähe arbeitenden Sohn in die Notaufnahme seines Heimatortes in Niedersachsen bringen, wo er behandelt wird.

Der Prozess wird am Dienstag mit der Vernehmung des Vaters von Kevin S. und weiteren Zeugen aus dem Döner-Imbiss fortgesetzt.

Weitere Einzelheiten zum elften Prozesstag erfahren Sie in diesem Video von Videoredakteurin Samantha Günther. In dem sich unter anderem der Rechtsanwalt David Herrmann äußert.