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Halle-Attentat Terror-Prozess: Tränen im Gerichtssaal

Der Vater des beim Attentat in Halle getöteten Kevin S. hat jetzt ausgesagt. Eine bewegende Schilderung des Schicksals des 20-Jährigen.

Von Matthias Fricke 15.09.2020, 18:23

Magdeburg l Karsten L. trägt einen Schal des Halleschen Fußballclubs, als er im Zeugenstuhl Platz nimmt. Es ist eine Solidaritätsbekundung für seinen toten Sohn Kevin S. Der wegen eines epileptischen Anfalls während seiner Geburt zu 80 Prozent geistig-behinderte Malerlehrling ging regelmäßig zu Spielen des Vereins. Der HFC war seine Leidenschaft, sein Leben. Sein Vater sagt: „Er hat jede einzelne Eintrittskarte aufgehoben und gesammelt.“ Er habe jede Menge Freunde über den Fußball kennengelernt. „Die haben auch auf ihn aufgepasst, so dass wir uns keine Sorgen machen mussten“, sagt der Vater. Das war nicht immer so. In den letzten Jahren habe ihr Sohn eine gute Entwicklung in der Förderschule gehabt. Er war das einzige Kind der beiden getrennt lebenden Eltern. Bereits früher hatte es einen Schicksalsschlag gegeben. Kevins älterer Bruder starb sehr früh. Er wäre jetzt 25 Jahre alt gewesen.

Der 20-Jährige Kevin S. hatte an jenem 9. Oktober erst seinen neunten Tag als Malerlehrling. „Er war sehr fleißig und arbeitete extrem gerne. Er wollte immer länger arbeiten und ärgerte sich sogar, dass die Arbeitswoche nur fünf Tage hat“, erzählt der Vater voller Stolz. Kevin habe Pläne gehabt, wollte seine Ausbildung beenden und so seine Leidenschaft, den Fußball finanzieren.

Um 11.45 Uhr telefonierten beide das letzte Mal. „Er fragte mich, ob er einen Döner essen darf. Ich erlaubte es ihm, sagte aber, dass es der letzte die Woche sein sollte. Seine Mutter war davon nicht begeistert“, erzählt der 44-Jährige dem Gericht mit brüchiger Stimme. An jenem schicksalhaften Mittwoch befand sich der Vater in seiner Wohnung in Wuppertal. Sein Sohn ging mit einem Arbeitskollegen in der Mittagspause zum Kiez-Döner in der Ludwig-Wucherer-Straße in Halle. Dort schoss Stephan B. mehrfach auf den hinter einen Kühlschrank geflüchteten Kevin S. Der Merseburger starb an den multiplen Schussverletzungen. Sein Arbeitskollege konnte sich noch rechtzeitig durch den Hinterausgang retten.

„Irgendwann nach dem Mittag haben wir versucht Kevin anzurufen, doch es nahm keiner ab“, erinnert sich Karsten L. Auch auf die Textnachrichten reagierte er nicht. Der 44-Jährige bemüht sich in seiner Aussage um Fassung. „Wir haben 20 bis 30 Mal versucht anzurufen, keiner nahm ab“, sagt er. Gegen Abend stellte er aus Verzweiflung dann eine Vermisstenmeldung bei Facebook ein. Ein Freund von ihm schickte ihm dann ein Video. Karsten L. musste darauf mit ansehen wie der Attentäter seinen Sohn erschoss. Er erkannte Kevin an seinen Haaren und der Stimme.

Emotional ergriffen, lassen in diesem Moment auch viele im Gerichtssaal ihren Tränen freien Lauf. Dem Vater bleibt die Stimme weg. Die Richterin unterbricht daraufhin den Prozess für einige Minuten, weil der Vater kurz vor dem Zusammenbruch steht. Nach der Pause erzählt er von der durch den Anschlag zerstörten Familie. Kevins Mutter und er befinden sich weiter in psychiatrischer Behandlung. Dreimal musste er wegen akuter Suizidgefahr in einer Klinik aufgenommen werden. Er sagt: „Es ist ein Leben, dass wir so nicht kennen.“ Inzwischen ist er von Wuppertal wieder nach Merseburg gezogen.

Das Leben hat sich auch für Ismet und Rifat Tekin aus dem Döner-Imbiss verändert. Letzterer 32-jähriger Angestellter hat den Anschlag im Kiez-Döner überlebt, weil er sich rechtzeitig hinter dem Tresen verstecken konnte. Auch er befindet sich noch immer in Behandlung. Sein Bruder Ismet Tekin hatte nur wenige Minuten vor dem Anschlag den Imbiss verlassen. Er sagt: „Der Mörder ist ein Feigling. Er hatte kein Recht dazu den Angehörigen solch einen Schmerz zu bereiten. Kevin und Jana leben bis in alle Ewigkeit in unseren Herzen.“

Der Prozess wird heute mit den Zeugen des Schusswechsels auf der Ludwig-Wucherer-Straße fortgesetzt.

Weitere Einzelheiten zum zwölften Prozesstag erfahren Sie in diesem Video von Videoredakteurin Samantha Günther. In dem sich unter anderem der Rechtsanwalt Erkan Görgülü äußert.