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30 Jahre Mauerfall Leserbrief von Alt-Oberbürgermeister

Magdeburgs ehemaliger Oberbürgermeister hat 1989 einen Brief mit Verbesserungsideen für seine Stadt an die Volksstimme verfasst.

Von Jens Schmidt 09.11.2019, 00:01

Magdeburg l Im Frühjahr 1989 ruft die Volksstimme ihre Leser zum Schreiben auf. „Was uns heute gefällt – und morgen besser sein kann“ heißt die Aktion. Die Volksstimme ist SED-Bezirkszeitung, und die Partei will Positives aus dem Volke im Blatt gedruckt sehen. Der Druck ist schon groß. Im Mai 1989 stehen Kommunalwahlen an.

Unter den Leserbriefschreibern ist auch ein Wilhelm Polte. Vier Seiten Schreibmaschine, datiert auf den 2. April 1989. Er macht sich Gedanken über Magdeburg. Seine Heimatstadt. Am ersten Teil der Aktion „Was uns heute gefällt“ hält er sich nicht lange auf. Polte hat aber eine Menge Ideen, was morgen besser sein kann. In fünf Punkten und 21 Spiegelstrichen breitet er seine Pläne aus. So soll sich Magdeburg nicht länger auf den Schwermaschinenbau fixieren, sondern Zukunftsindustrien ansiedeln. Am besten in Kooperation mit westdeutschen Städten Braunschweig, Hannover, Wolfsburg.

Dann stellt Polte viele Fragen. Nach einer Autobahn in Richtung Halle, die es nicht gibt; nach einem modernen Telefonnetz, das es so gut wie nicht gibt, nach der Schnellzugstrecke von Berlin nach Hannover, die es geben soll, aber ohne Anschluss für Magdeburg. Er will neue Hotels und Warenhäuser. Und: Polte schlägt vor, die Johanniskirche wieder aufzubauen. Die Ruine nahe der Elbe, stummer Zeuge aus der Bombennacht 1945. „Dadurch würde sehr viel architektonisch interessanter Raum gewonnen für Kongresse und Fachtagungen“, schreibt er. Am Ende des Briefs wird Leser Polte grundsätzlich. „Unser zentralistisch verfasster Staatsaufbau gewährt den Kommunen nur begrenzten Spielraum.“ Dennoch würde selbst dieser zu wenig genutzt. „Was ich aber beklage, ist die völlig unzureichende Widerspiegelung solcher Beratungs- und Entscheidungsprozesse in unserer Lokalpresse.“

Der Brief wird nie gedruckt. Willi Polte lehrt damals an der Technischen Hochschule Magdeburg. Eines Tages wird er vom Rektor vorgeladen. Auf dem Schreibtisch liegt sein Brief. Die Aussprache geht glimpflich aus. Ein Jahr später, im Mai 1990, wird Willi Polte zum SPD-Oberbürgermeister in Magdeburg gewählt. Nun hat er es selbst in der Hand: 5 Punkte, 21 Spiegelstriche.

Herbst 2019. Wir verabreden uns mit dem Alt-OB. Reden über damals. Über den Brief. Was aus seinen Plänen wurde. Wo treffen? Wie wäre es mit einem Ort, mit dem er besonders viel verbindet? Polte antwortet ohne zu zögern: „Dann in der Johanniskirche.“

Willi Polte ist in Niegripp aufgewachsen, das Dorf liegt gut 20 Kilometer von Magdeburg entfernt. Am Abend des 16. Januar 1945 hüllte die Mutter den siebenjährigen Willi in eine Decke, nahm ihn auf die Arme, ging in den Garten, wo der Vater einen Schutzbunker gebaut hatte. Bomben-Geschwader näherten sich der Großstadt auf der anderen Elb-Seite. Leuchtspuren, dumpfe Einschläge, Feuerschein in der Ferne. Diese Szene würde Willi Polte nie loslassen.

Sechs kriegsbeschädigte, aber reparable Gotteshäuser hatte die SED in den 50er und 60er Jahren in Magdeburg sprengen lassen. 1990 beschlossen Stadtrat und Oberbürgermeister Polte den Wiederaufbau der Johanniskirche. Seit 1999 empfängt ein mächtiger Fest- und Konzertsaal mit hohen gotischen Fenstern die Besucher. „Das war für mich ein Stück Stadtreparatur“, erzählt Polte.“ Mehr als 10 Millionen Euro gaben Land, Stadt und Spender. „Doch es hat sich gelohnt“, sagt er. In jeder Hinsicht. „Es ist das einzige kommunale Objekt der Stadt, das schwarze Zahlen schreibt.“

Nach dem Krieg hoffte der junge Polte auf eine baldige Wiedervereinigung. Ende der 50er legte die SPD im Westen einen Plan zur Einheit vor. Zugeständnis: Deutschland bleibt neutral. Doch Adenauer entschied sich für die Westbindung. „Das hat mich gewurmt“, sagt Polte. Fortan schlug sein Herz für Erich Ollenhauer und Willy Brandt. „Für mich war jetzt klar: Nur mit einer starken SPD kommen wir zur Einheit.“ 1960 fuhr der 22-jährige Willi Polte nach Berlin.

Über die noch offene Grenze auf die Westseite und schnurstracks ins sogenannte Ostbüro der SPD – um Mitglied zu werden. Die West-Genossen guckten verdutzt, registrierten aber den eigenwilligen Ostler. Sie versprachen, die Mitgliedskarte nach Bonn zu schicken. Falls der Russe Westberlin mal überrollen sollte, würden die Beweise im sicheren Westen liegen. Polte hielt seine Mitgliedschaft bis 1989 geheim. „Auch meiner Frau habe ich nichts erzählt.“

Magdeburg hat mittlerweile eine Universität, genügend Telefone, neue Hotels, einen Anschluss an die Autobahn nach Halle. Aus dem trostlosen Militär-Gelände im Osten der Stadt wurde ein grüner Elbauenpark, weil Polte 1999 die Bundesgartenschau nach Magdeburg holte. Nichts wurde aus einer Ansiedlung des Versandzentrums Otto (scheiterte im Stadtrat), dem Bau eines Regionalflughafens (scheiterte an einer Stimme im Kreistag Wanzleben) und aus einem Anschluss an die ICE-Strecke Berlin-Hannover (scheiterte an der Bundesregierung).

Gern hätte Polte der Innenstadt wieder mehr vom alten Magdeburg zurückgegeben: Fassaden, Straßenzüge. Doch das misslang, weil der Einheitsvertrag einen Webfehler hatte: Rückgabe vor Entschädigung. Allein im Stadtzentrum erhoben 371 Alteigentümer Ansprüche. Hätte sich die Stadt mit allen einigen wollen, hätte sich jahrelang kein Kran gedreht. „Die Leute wollten doch endlich hier einkaufen.“ Es gab gesetzlich nur einen Ausweg: Wenn Großinvestoren kommen, werden die Alteigentümer entschädigt. Also kamen Großinvestoren. Die interessierten sich fürs Geschäft, aber nicht für Stadtbilder. Also bekam Magdeburg seine Center, so wie viele Städte. Praktisch aber verwechselbar.

Polte grämt das. Aber es ärgert ihn auch, wenn die Leute zu viel meckern. Als er noch Oberbürgermeister war, brachte ihn das schon morgens in Wallung. Morgens, wenn er die Volksstimme auf dem Tisch hatte. Auf den Leserbriefseiten wurde ja nun fast alles gedruckt. Wenn es Polte packte, holte er das Telefonbuch, suchte die Adresse des Lesers und rief an. Dann erklärte der Oberbürgermeister dem Verdatterten erst mal die Sachlage. „Wenn geschimpft wird – ohne Kenntnis der Zusammenhänge – das ärgert mich. Das geht mir heute noch so.“ Polte macht eine Pause. Senkt die Stimme. „Manchmal werde ich da leider etwas grob.“ Dann grinst er. „Aber danach fühle ich mich besser.“

Dossier 30 Jahre Mauerfall