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Mediziner-Buch Stendaler Professor ist auch Kolumnist

Professor Ulrich Nellessen aus Stendal ist Mediziner, Kolumnist mit Leidenschaft und Buchautor.

Von Thomas Pusch 03.12.2017, 03:00

Stendal l Wer seine Kolumnen liest, glaubt manchmal kaum, dass sie von einem Mediziner verfasst sind. Da wird die Patientenakte gegeißelt, Untersuchungswahn an den Pranger gestellt oder auch die künstliche Ernährung in Zweifel gezogen. Professor Ulrich Nellessen ist Ärztlicher Direktor am Stendaler Johanniter-Krankenhaus und seit 2009 auch Kolumnist in der Volksstimme. In seinen Texten betrachtet er Medizin, Gesellschaft und Gesundheitspolitik mal kritisch, mal nachdenklich mal humorvoll, aber immer sehr persönlich. Im Jahr 2016 hat er ein Buch herausgegeben, „Lebensbiopsien“.

Schreiben sei ihm früher ein Graus gewesen, bekennt Ulrich Nellessen im Gespräch mit der Volksstimme. „Ich war als Schüler auch nicht gut in Deutsch“, gibt er im Gespräch mit der Volksstimme freimütig zu. Mit Mitte 20 schrieb er dann das erste bedeutende Werk, seine Doktorarbeit zum Abschluss des Medizinstudiums in Kiel, mit der Hand. „Es ging um etwas Experimentelles am Herzen“, versucht er das Thema auch für den Laien verständlich zu halten. Sein Vater tippte die Arbeit ab und meinte so ganz nebenbei: „Du schreibst gar nicht schlecht“.

Und Nellessen schrieb weiter. Über den Brustschmerz erschien sogar ein kleines Buch von ihm im Thieme-Verlag. Nach dem Hamburger Marienkrankenhaus und der Medizinischen Hochschule Hannover ging er nach Amerika. Und auch dort, in der Heimat der hochrangigen medizinischen Fachzeitschriften, verfasste er Texte. „Wissenschaftliches Schreiben ist auch schreiben und die achten da ganz genau auf die Ausdrucksweise“, beschreibt er die Arbeit.

An der Stanford Universität in Kalifornien war Professor Norman Shumway, ein Pionier der Herztransplantation, tätig. Und er war nicht die einzige Koryphäe, mit der der Arzt aus Deutschland zu tun hatte. „Ich war mit 35 Jahren an einer der berühmtesten Universitäten, die eine eigene Landebahn für die Patienten aus dem Nahen Osten hat und wo auf allen Etagen Nobelpreisträger unterwegs sind“, beschreibt er.

Überwältigt von der Szenerie, bekam er leise Selbstzweifel. Doch nachdem er im Spätherbst seine erste Arbeit veröffentlicht hatte, die ein weltweites Echo auslöste, waren diese verflogen. Er unternahm Vortragsreisen durch die USA, genoss die Inspiration der Nobelpreisträger und war kurz davor, einen Zehn-Jahres-Vertrag zu bekommen.

Doch nach zweieinhalb Jahren führte der Weg der Familie Nellessen wieder zurück nach Deutschland. Zunächst ging es wieder an die Kieler Universität, dann als Professor an die Uni Würzburg. Dort hätte er bis zu seinem Ruhestand bleiben können. Doch Mitte der 90er Jahre folgte er dem Ruf nach Stendal. 1995 wurde er Chefarzt am Johanniter-Krankenhaus Genthin-Stendal, ein Jahr später auch Ärztlicher Direktor. Letztere Funktion füllt er seit dem vergangenen Jahr hauptamtlich aus.

Und auch in Stendal schrieb er. Zunächst wieder wissenschaftlich. Er untersuchte den Einfluss der Wende auf herzkranke Patienten. Seine Ergebnisse wurden sogar in den USA veröffentlicht. „Wenn Sie in der Medizin Karriere machen wollen, müssen sie schreiben können“, weiß er. Nellessen kann schreiben und er hat Karriere gemacht. Ihn fasziniert es, sich Gedanken durch den Kopf gehen zu lassen und sie in Sprache zu verwandeln. Allein, wie er diesen Satz sagt, zeigt, dass er sich nicht nur für Medizin interessiert.

„Das Leben als solches hat mich immer bewegt“, sagt er. Die Höhen und Tiefen, die es parat hält. Er fing an Kolumnen zu schreiben. Seit 2009 erscheinen sie regelmäßig in der Stendaler Volksstimme. Nellessen sieht sie als einen Brückenschlag zwischen Naturwissenschaft und Philosophie. Seine Töchter sagen ihm immer, er mache sich zu viele Gedanken, er solle die Leichtigkeit des Lebens bewahren. Man sehe aber so viel, auch im beruflichen Alltag.

Die Eitelkeit vieler Professoren auf Kongressen, an denen er in den 80er Jahren teilgenommen hat, fand er unerträglich. Viele Menschen würden Skrupel vor jemandem haben, der unendlich erfolgreich oder reich ist. Den Professor beeindruckt das nicht. „Ich habe Respekt vor richtig klugen Gedanken“, bekennt er.

Kant hat ihn immer wieder fasziniert. Und er kommt ins Philosophieren über „a priori“ und „a posteriori“, Eigenschaften, die man ohne Erfahrung hat und andere, für die man Erfahrungen sammeln muss. „Gänseküken können schwimmen, Babys nicht“, nennt er ein Beispiel. Die Gänseküken haben die Schwimmfähigkeit also a priori mitgegeben bekommen. „Die Realität der Welt schafft sich Organe, damit sie erkannt wird.“

Noch so ein Satz. Und diesen Prozess hält Nellessen für noch nicht abgeschlossen. „Zum Schluss sieht man den lieben Gott und das Universum“, meint er. Allerdings hält er das für einen langfristigen Prozess, etwa 100.000 Jahre. Dann könnten die Menschen sogar in der Lage sein, die Unendlichkeit des Weltalls zu verstehen. So hoch hinaus gehen seine Gedanken in den Kolumnen aber nicht immer. Ganz oft geht es um bodenständige Themen. „Ich schreibe über das, was mir gerade über den Weg läuft“, erklärt er. Ganz selten schreibe er im Voraus auf, was thematisiert werden könnte. Vielmehr reiche manchmal der Satz eines Mitmenschen als Inspiration aus.

Einmal im Monat wird er auf der Stendaler Kreisseite abgedruckt. „Spätestens eine Woche vorher muss ich einen Gedanken für die Kolumne haben, sonst werde ich unruhig“, sagt Nellessen. In den ganzen Jahren sei deren Verfassen aber noch nie ein Krampf gewesen.

Auf Wunsch zahlreicher Leser hat er im vergangenen Jahr seine Texte in dem Buch „Lebensbiopsien. Medizinisches – Menschliches – Menschlichkeiten“ zusammengefasst. Biopsien sind Gewebeproben. Nellessen entnimmt kleine Proben aus dem Leben und erzählt darüber. Er schreibt über den Selbstmord mit Messer und Gabel, beschreibt das Duell zwischen Chefarzt und Krankenhaus-Geschäftsführer, schildert die teils chaotischen Zustände in einer Notaufnahme, stellt sogar die Frage „Was ist Leben?“.

Und hat dafür Lob aus berufenem Munde erhalten. Die renommierte Literaturkritikerin vom Norddeutschen Rundfunk, Annemarie Stoltenberg, schwärmt: „Selten gibt es Texte von solcher Klarheit, Nüchternheit, starken Bildern und treffenden Worten. Ulrich Nellessen sagt, womit wir rechnen müssen, wenn wir krank werden; und wie ein vernünftiges Gesundheitswesen funktionieren könnte.“

So war es nur logisch, dass er sein Buch auch öffentlich vorstellte. Im November 2016 lockte die Veranstaltung rund 160 Besucher ins Stendaler Musikforum Katharinenkirche. Es war eine Lesung mit besonderem Konzept. Schauspieler Alexander Abramyan trug acht Kolumnen in der richtigen Intonation, leicht bedächtig, vor. Das Gehörte wurde dann durch Gesprächsrunden mit Professor Nellessen aufgelöst.

Eine besondere Erfahrung, nicht nur für die Zuhörer. „Es ist faszinierend, die eigenen Texte zu hören“, meint Nellessen. Manchmal komme es ihm fast so vor, als seien das ganz neue Texte. Die Art der Umsetzung gefiel ihm und so wurden weitere Termine festgemacht. Lesungen in der Stendaler und der Osterburger Stadtbibliothek folgten, jüngst drängelten sich 60 Zuhörer in einer Stendaler Buchhandlung. „Wir sind so etwas wie eine Boyband“, meinte er schon beim Beisammensein nach der ersten Lesung – und hatte dabei die wohl beste Band der Welt im Kopf – „Die Beatles haben auch klein im Star-Club angefangen“, meinte er schmunzelnd. Und die „Band on the run“, wie es Nellessen wohl nicht zufällig nach einem Titel von Paul McCartneys „Wings“ nennt, setzt ihren Weg nun fort, gastiert auch außerhalb des Landkreises.

Am 5. Dezember stellt er die Biopsien bei der Weihnachtsfeier des Rotary-Clubs in Haldensleben vor. Lesen wird dort Kristina Grahn. Am 14. Dezember ist es wieder öffentlich, dann ist gibt es die Kolumnen ab 18 Uhr in der Genthiner Stadtbibliothek zu hören. Vorgetragen werden sie dort vom Theaterpreisträger Hannes Liebmann. Mittlerweile ist die Auswahl der Texte verändert worden, es sind Kolumnen dabei, die nicht im Buch sind. Und ein Ende ist nicht abzusehen, allerdings: „Das Thema muss mich wirklich bewegen, sonst kann ich nicht darüber schreiben“.