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Sachsen-Anhalt Gedränge in halben Zügen

In den Zügen auf der Strecke Magdeburg-Halberstadt ist es oft proppenvoll. Das liegt vor allem am Betreiber Abellio.

Von Jens Schmidt 12.11.2020, 00:01

Magdeburg l Kerstin Hinz aus Blankenburg ist Berufspendlerin auf der Strecke Magdeburg – Halberstadt. „Seit der Übernahme der Linie durch Abellio vor zwei Jahren häufen sich Missstände“, schreibt sie der Volksstimme. Zugausfälle, Ersatzverkehr, Unpünktlichkeit. „Doch was jetzt passiert, ist für mich nicht akzeptabel.“ Statt zweier Triebwagen rollt oft nur noch einer an. Vor allem beim Schichtwechsel im Gewerbepark Osterweddingen ist es dann übervoll. Corona? Abstand halten? Geht nicht. „Dafür hat man einen ungewollten Kuschelfaktor inklusive.“ Kerstin Hinz steigt um – aufs Auto.

Was Abellio macht, ist klarer Vertragsbruch. Vorgeschrieben ist die sogenannte „Doppeltraktion“. Also zwei Triebwagen mit insgesamt 210 Sitzplätzen. Doch seit dem Sommer rollt beinah jeder fünfte Zug nur halb an. „Von Juli bis Anfang November betraf das fast 19 Prozent aller Züge auf dieser Linie“, sagt Wolfgang Ball, Sprecher des Nahverkehrsunternehmens Nasa. Das ist zuständig für die Verkehrsverträge und deren Überwachung. Bei allen Bahnunternehmen komme es mal zu Ausfällen, berichtet Ball. Der Schnitt liege bei zwei bis drei Prozent – nicht aber bei fast 20.

Abellio setzt auf seinem Dieselzugnetz in Sachsen-Anhalt 54 neue Triebwagen des Herstellers Alsthom (Salzgitter) ein. Die müssen regelmäßig gewartet werden. „Doch im Sommer gab es im Instandhaltungswerk Halberstadt einen Auftragsstau“, sagt Abellio-Sprecher Matthias Neumann. Und im Herbst meldete die Bordelektronik einiger Triebwagen Probleme mit dem Antrieb. Da die neuen Züge noch Garantie haben, müssen sie zur Reparatur zum Hersteller nach Salzgitter: Das dauert. Zu allem Ärger gesellten sich noch ein paar Unglücke: Ein Triebwagen hatte einen Unfall an einem Bahnübergang. Ein zweiter wurde beschädigt, nachdem ein paar „Spaßvögel“ eine alte Matratze aufs Gleis gelegt hatten. Ein dritter kollidierte mit einem Pferd.

Doch für solche Fälle haben Bahnunternehmen eine Reserve. Abellio hat sieben Triebwagen reserviert. An Wochenenden sind es neun. Zu wenige? „Bislang hat es immer ausgereicht“, sagt Neumann.

Bislang. Doch wenn die Realität die alten Planungen überholt, müsste man nicht den Reserve-Park erweitern? Neumann verweist auf die Kosten. Ein Triebwagen schlägt mit drei Millionen Euro zu Buche.

Und: Abellio, Tochter der niederländischen Staatsbahn, kalkuliert besonders hart. Öffentlicher Auftraggeber wie Sachsen-Anhalt freuten sich anfangs darüber. 2018 vergab das Land sein Dieselnetz bis 2032 an Abellio. Für unschlagbare 1,7 Milliarden Euro. Die Preis war so niedrig, dass sich das Land veranlasst sah, die Offerte durch ein Gutachten prüfen zu lassen. Die Expertise gab grünes Licht. Das Nachsehen hatte die Deutsche-Bahn-Tochter DB Regio. Die konnte bei dem Kampfreis nicht mithalten.

Doch die Freude über den vermeintlich tollen Deal verflog recht bald. Kaum hatte Abellio im Dezember 2018 die Linien übernommen, fuhren in den ersten Monaten oft Busse statt Zügen. Schon in den ersten Tagen fielen gleich mal 150 Züge aus. Abellio hatten schlicht „vergessen“, sich frühzeitig um ausreichend Lokführer und Schaffner zu kümmern.

Abellio hat sich auch finanziell verspekuliert. Die Gehälter und Urlaubsregelungen haben sich fürs Zugpersonal stärker verbessert, als man das in Chefetage für möglich gehalten hatte. Im September forderte Abellio vom Land einen Nachschlag von ungefähr 100 Millionen Euro. Das Verkehrsministerium steckt nun in der Klemme. Gäbe es dem nach, könnte der unterlegene Mitbewerber DB Regio dagegen juristisch erfolgreich zu Felde ziehen. Zahlt man nichts, droht Abellio die unternehmerische Entgleisung: Dann müsste das Land mit einer teuren Not-Beauftragung irgendwie den Zugverkehr aufrechterhalten. Nun hat das Land eine bis zu 250 000 Euro teure Beratung in Auftrag gegeben: Juristen sollen bis Jahresende klären, wie man auf das Begehren Abellios am besten reagiert.

Manche Verkehrspolitiker sind so ernüchtert, dass sie den seit 1996 laufenden Wettbewerb auf der Schiene am liebsten wieder abschaffen möchten. Falko Grube (SPD) sagte: „Wenn mit DB Regio und Abellio zwei Staatsbahnen gegeneinander antreten, hat das mit echtem Wettbewerb wenig zu tun. Für mich bleibt unter dem Strich: Dieser Wettbewerb hat sich nicht bewährt.“

So weit will das Verkehrsministerium nicht gehen und verweist auf den Qualitätsschub, seitdem es Wettbewerb gibt: Bessere und barrierefreie Wagen, Internet an Bord, Schaffner auf allen Zügen. Bei Vertragsverstößen verhängt das Land Strafen – sogenannten Pönalen.

„Mängel gibt es nicht nur bei Abellio, sondern auch bei DB Regio“, sagt Nasa-Sprecher Ball. Beide Unternehmen beherrschen das Nahverkehrsnetz in Sachsen-Anhalt: DB Regio hat 52 Prozent Marktanteil, Abellio 46 Prozent. 2019 summierten sich die Strafen auf fast 22 Millionen Euro. Für 2020 liegen die Zahlen noch nicht vor. Aber große Unterschiede gebe es zwischen den Anbietern nicht, sagt Ball. DB Regio habe insgesamt sogar mehr operative Zugausfälle zu verzeichnen als Abellio. Bei Servicemängeln wiederum liege Abellio geringfügig über DB Regio.

„Ab dieser Woche fahren die Züge wieder mit zwei Triebwagen“, verspricht Abellio. Meinung