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Städte & Dörfer 30 Jahre Freiheit: Ortschefs ziehen Bilanz

Seit 1990 dürfen sich Städte und Dörfer in Sachsen-Anhalt wieder selbst verwalten. Wie fällt die Bilanz 30 Jahre nach der Wende aus?

Von Alexander Walter 25.06.2020, 11:32

Magdeburg l Wer von Karla Michalski etwas über Gerwisch erfahren will, sollte die Einladung zu einer Dorfrundfahrt annehmen. Fast wie ein Deichgraf spricht die Bürgermeisterin dann über den Abwehrkampf der Bewohner gegen die großen Elbefluten der vergangenen Jahre, erzählt über Pegelstände und durchwachte Nächte an der Hochwasserlinie.

Gerwisch, ein 2500 Einwohner zählendes Dorf vor den Toren Magdeburgs, ist nicht nur Michalskis zuhause. Es ist, man kann das wohl so sagen, ihr Lebensprojekt. Dass das Dorf beim Hochwasser 2013 nur dank ihres Einsatzes für einen schnellen Deichbau einer Katastrophe entging, macht sie im Dorf populär. 2016 hat sie dafür das Bundesverdienstkreuz erhalten.

Immer wieder während der Fahrt durch Gerwisch hebt die 73-Jährige die Hand. Die Leute kennen sie, und Michalski kennt ihre Bürger – die meisten mit Namen. Die Bürgermeisterin zeigt aber auch Firmen, Eigenheimsiedlungen, Einkaufsstätten, Straßen. Die Botschaft: Gerwisch hat nicht nur das Hochwasser gut gemeistert.

Unter Michalskis Regie hat sich seit der Wende viel bewegt. Meistens zum Positiven. Michalski kann – und darf das wohl auch so – einschätzen. Als eine von ganz wenigen in Sachsen-Anhalt steht sie ihrem Dorf nun seit 30 Jahren als ehrenamtliche Bürgermeisterin vor: Sechsmal wurde sie wiedergewählt. Damit ist sie einer der dienstältesten Bürgermeister und genauso lange im Amt, wie es das heutige Sachsen-Anhalt gibt.

Städte und Gemeinden wollten die Entlassung der Kommunen in die Freiheit der Selbstverwaltung im Mai eigentlich groß feiern. Doch die Corona-Pandemie machte den Plänen ein Strich durch die Rechnung. Die Feier ist aufgeschoben und wird eventuell 2021 nachgeholt, sagt Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund.

Doch wie fällt die Bilanz nach 30 Jahren Neuanfang aus? Ist die Selbstverwaltung von Städten und Dörfern ein Erfolg? Oder sind die Gemeinden mit Überalterung, Geldknappheit und dem anhaltenden Strukturwandel überfordert?

Sie habe nach ihrem Amtsantritt erstmal jede Menge lernen müssen, erzählt Karla Michalski. Eigentumsfragen waren zu klären, Volkseigentum war in Privatbesitz umzuwandeln. „Damals hatte ich eine Karte in meiner Wohnung“, sagt die 73-Jährige. Darauf alle Fluren von Gerwisch. Die Bürgermeisterin lernte alle Besitzverhältnisse auswendig, um im Bilde zu sein.

Unterstützung kommt in der Anfangsphase von der Partnergemeinde Lemwerder an der Weser, direkt gegenüber der Großstadt Bremen. „Die haben uns enorm geholfen, Verwaltungsstrukturen aufzubauen. Unsere Leute sind zu Lehrgängen gefahren“, sagt Michalski.

Lemwerder habe sämtliche Kosten übernommen. „Ein Glücksgriff bis heute“, so die Bürgermeisterin. Auch sonst hatte Gerwisch eher gute Karten. Das Dorf, nur wenige Kilometer von der Landeshauptstadt entfernt, profitiert von der Nähe des Zentrums Magdeburg. Die Einwohnerzahl stieg nach der Wende von 1900 auf zuletzt 2700.

Familien und Pendler haben hier ihre Häuschen gebaut. Trotz der Umwälzungen nach der Wende haben viele Firmen überlebt oder sich neu angesiedelt. Darunter sind etwa ein Waffelwerk oder das Klärwerk für die Landeshauptstadt.

Selbstverständlich ist eine solche Entwicklung nicht. Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund sieht 30 Jahre nach dem Start der neuen Selbstverwaltung viel Licht, aber auch Schatten. „Ein Erfolg war in jedem Fall die gelungene Sanierung vieler Innenstädte“, sagt er. „Auch bei den Elbfluten sowie aktuell bei Corona hat sich gezeigt, dass lokale Entscheidungen am besten in den Händen der Akteure vor Ort aufgehoben sind.“

Der demografische Wandel und die Finanzausstattung vieler Kommunen bereiten den kommunalen Spitzenverbänden dagegen Sorgen. Vor allem die Geldknappheit gehe so weit, dass Gemeinden ihre kommunalen Freiheiten gar nicht mehr ausschöpfen können.

Vieles davon bestätigt Nico Schulz. Seit 2011 ist er Bürgermeister von Osterburg in der ländlichen Altmark. Ein Zentrum wie Magdeburg gibt es hier weit und breit nicht. Seit 1999 sitzt der gebürtige Krumker – ein Ortsteil der Hansestadt – im Stadtrat. „Positiv ist, dass wir Mittel konsequent in geförderte Städtebauprojekte investieren konnten“, sagt Schulz. Alte Fachwerkhäuser, ja ganze Straßenzüge konnten so liebevoll saniert werden. „Das nimmt man als Anwohner häufig ja gar nicht mehr wahr“, sagt Schulz.

Osterburg habe hier geholfen, dass die Stadt im Gegenzug für den Verlust des Kreisstadtstatus 1994 zwölf Millionen Euro Ausgleich vom Land bekam.

Auch die Wirtschaft entwickelte sich gut. 1600 Pendler fahren heute täglich zum Arbeiten in die Gemeinde. Mit dreieinhalb Millionen Euro Gewerbesteuer-aufkommen ist die Stadt für ihre Größe sehr gut aufgestellt.

Von der Verlängerung der A 14 verspricht sich Schulz zusätzliche Impulse. Die Trasse wird direkt an der Stadt vorbeiführen. Ein Investor hat bereits ein 20 Hektar große Grundstück an der Trasse erworben, sagt Schulz.

Sorgen bereitet dem Bürgermeister allerdings die Bevölkerungsentwicklung. Seit der Wende hat die Zahl der Osterburger rapide abgenommen – die Stadt ist damit kein Einzelfall. Von 10 000 Menschen, die 1990 in der Kernstadt lebten, sind heute nur 6000 geblieben. In nur noch einem der 31 Ortsteile gibt es einen Konsum.

Die Gemeinde versucht mit Eigeninitiative gegenzuhalten: So hat der Stadtrat ein Paket geschnürt, um dem drohenden Mangel an Nachwuchs für die Arztpraxen der Stadt zu begegnen. Kernelement sind Stipendien für Studenten, die sich im Gegenzug verpflichten, nach ihrer Ausbildung, in Osterburg zu arbeiten. Ein ganz ähnliches Projekt hat die Stadt Gardelegen mit dem „Gardelehrer“ für den Lehrerjob aufgelegt. Ob solche Projekte helfen? Nico Schulz hofft das. Und er setzt auf gesellschaftliche Trends. Die Corona-Pandemie etwa könnte die Stadtflucht befördern, sagt er.

Heiko Liebenehm vom Städte- und Gemeindebund sagt: Die Bevölkerungsentwicklung lässt sich nicht von oben verordnen. „Sachsen-Anhalt wird in Sachen Bevölkerungsrückgang absehbar wohl am stärksten von allen Bundesländern gebeutelt sein.“

Von der Antwort auf die Frage, wie schlimm der Rückgang am Ende tatsächlich ausfällt, dürfte abhängen, welche Strukturen in der Fläche langfristig erhalten bleiben, sagt er.

Gleichwohl will der Städtebund, dass weiter Fördergeld auch in den ländlichen Raum fließt. Damit widerspricht der Verband deutlich Empfehlungen von Experten etwa des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle. Diese hatten 2019 in einer Studie gefordert, die Strukturförderung künftig auf Großstädte zu konzentrieren.

Über einen Bevölkerungsrückgang muss Karla Michalski sich vorerst keine Sorgen machen. Bei der Dorfrundfahrt zeigt sie eher Stellen, an denen man wegen der Hochwassergefahr besser nicht hätte bauen sollen. Ein wenig traurig ist die 73-Jährige allerdings darüber, dass Gerwisch 2010 vollständig seine Eigenständigkeit verlor. Heute gehört es zu Biederitz.

Landesweit ist die Zahl der Gemeinden seit der Wende durch teils freiwillige, teils erzwungene Fusionen drastisch gesunken. Nach Angaben des Städte- und Gemeindebundes fiel sie von 1300 im Jahr 1990 auf nun 122.

Dass es so kommen würde, ahnte Karla Michalski schon 1998. Damals warb sie im Sinne starker Zentren aber für die Eingemeindung nach Magdeburg, trug ihr Ortsschild gar symbolisch in Richtung Landeshauptstadt. Es war das einzige Mal, dass sie die Stimmung falsch einschätzte, erzählt sie heute. Das Vorhaben scheiterte an heftigem Widerstand aus dem Ort. Die Gerwischer haben es ihr offenbar verziehen. Bei der Gemeinderatswahl 2019 erhielt sie mit 941 Stimmen die meisten aller Kandidaten. Ob sie auch nach 30 Jahren weitermachen will? Ihr Blick sagt: ‚Was für eine Frage‘: „Gewählt ist gewählt“, sagt Michalski und lächelt.