Bundestagswahl Stille Wahlnacht
Unser Gastautor aus London berichtet über sein neues Leben in Sachsen-Anhalt und daüber, wie ihn die Bundestagswahl überrascht hat.
Magdeburg l Wir hatten die Bundestagswahl in einer Bar verfolgt. Doch immer mehr Menschen machten sich auf den Heimweg. Was war denn hier los? Es war doch noch nicht einmal 23 Uhr? Anstatt allein in einer leeren Kneipe zurückzubleiben, bezahlten auch wir hastig und eilten nach Hause. Dort angekommen, schalteten wir rasch den eigenen Fernseher ein. Es kam für uns nicht infrage, auch nur eine weitere Minute der Berichterstattung zu verpassen. Schnell! Hatten wir den richtigen Sender eingeschaltet? Mist, eine Dokumentation über Computer. Der nächste Sender? Ebenfalls kein Glück. Naja, dachten wir. Dann wohl erst in vier Jahren wieder.
Das Fernsehen geht hierzulande wichtige Themen wie die Bundestagswahl scheinbar genauso an wie die Mehrzahl der Deutschen: mit Ruhe und Gelassenheit. Selbstverständlich wird viel Zeit dafür eingeplant. Aber dafür alle Pläne umschmeißen? Kommt nicht infrage.
Wer eine derart entspannte Einstellung gegenüber der wichtigsten Wahl im Land hat, wird wohl noch nie die Mischung aus Aufregung und Furcht miterlebt haben, die jede Wahlnacht in Großbritannien mit sich bringt. Und momentan sind wir Briten routinierte Experten darin. Schließlich sind in den vergangenen vier Jahren große Wahlen zu einer jährlichen Tradition geworden.
Wird bei uns gewählt, gibt es an dem Tag im Fernsehen nur dieses eine Thema. Die Nation schaut zu, wenn jedes noch so kleine Gerücht wieder und wieder verbreitet, eine neue Prognose bekanntgegeben und jede Stimmenauszählung bis ins winzigste Detail analysiert wird. Es übt auf uns Briten eine ähnlich faszinierende Mischung aus Schaulust und Horror aus wie das Dschungelcamp. Leider mit größeren Auswirkungen. Denn der „Dschungelkönig“ bekommt hier viel mehr als eine Geldsumme: Er darf das Land regieren.
Egal, ob nach dem Brexit-Referendum 2016 oder bei der überraschenden Unterhauswahl in diesem Jahr: Jedes Mal verbringen besorgte Briten im ganzen Land die Nächte in ihren Wohnzimmern, essen tütenweise Chips und trinken literweise schwarzen Tee, während im Fernsehen in Dauerschleife die neuesten Wahlergebnisse laufen. Wer es noch britischer haben möchte, geht zu einer der vielen Partys, die in Privathaushalten geschmissen werden. Wir wissen zwar um 5 Uhr morgens nicht wirklich viel mehr als am Vorabend, aber der Gedanke, dass sich gerade die Zukunft vor den eigenen Augen offenbart, ist für uns einfach zu verlockend.
Natürlich ist den Deutschen Politik auch wichtig, viele haben eine starke Meinung, die sie selbstbewusst vertreten. Dadurch gibt es - besonders momentan - viele heftige Konflikte. Aber die deutschen Medien scheinen darauf viel bedachter zu reagieren, als die britischen. Damit meine ich nicht nur die Fernsehsender, sondern auch die Zeitungen, die sich in meinem Land nicht davor scheuen, dem Leser ihre blatteigene politische Gesinnung aufzudrängen, indem sie ihm direkt mitteilen, wofür er wählen sollte. Eine derart aggressive Form der Berichterstattung kann auf Dauer nur zu den labilen, gestressten Gemütszuständen der Briten kurz vor der Wahl führen.
Nachdem ich am Abend der Bundestagswahl den Fernseher um 23.15 Uhr ausgeschaltet hatte, waren für mich noch zu viele Fragen offen. Wie hatten die Politiker auf Twitter reagiert? Welcher Wahlbezirk hatte die Stimmen wohl am schnellsten gezählt? War es wirklich zu viel verlangt, dass ich in der Nacht der Bundestagswahl noch weitere Meinungen darüber hören wollte?
Schon gut, ich muss zugeben, dass wir Briten es mit unseren langen Wahlnächten auf die Spitze treiben. Aber, sorry, ich finde das gerechtfertigt. Denn oft vergessen wir, dass wir den Politikern mit unseren Stimmen die Möglichkeit geben, unser Leben zu verändern. Ist dieser Gedanke nicht Grund genug für eine schlaflose Nacht?