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Totschlag Vergilbte Akte erzählt Harzer Verbrechen

Einen Justiz-Irrtum, der 94 Jahre zurückliegt, kann der ehemalige Staatsanwalt Hans Wünsche aus Ebendorf (Bördekreis) nicht vergessen.

Von Bernd Kaufholz 11.03.2018, 00:31

Ebendorf l Hans Wünsche wuchtet einen alten Lederkoffer auf den polierten Stubentisch. Darin ein halbes Dutzend Aktenordner mit „Strafprozess-Akten“. Der Staatsanwalt a. D., der viele Jahre lang im Kreis Wanzleben die Anklage vertreten hat und bis nach der Wende bei der Staatsanwaltschaft Magdeburg tätig war, erinnert sich, wie er auf den Fall Karl Schmidt aus Thale im Harz gestoßen ist:

„Ich habe damals im Bereich Information und Dokumentation der Behörde gearbeitet. Eines Tages bekam ich einen Wäschekorb voll Akten ins Büro – vergilbt, eingerissene Deckel, überwiegend in altdeutscher Schrift.“

Er habe erst gedacht, dass es sich um Unterlagen des „Fernseh-Staatsanwalts“, Peter Przybylski, handelt, der mit der TV-Sendung ,Der Staatsanwalt hat das Wort‘, den DDR-Bürgern das sozialistische Recht nahebringen wollte.“

Doch da irrte der Jurist. Bei näherer Betrachtung stellte er fest, dass auf mehreren 100 Seiten über einen Zeitraum von zehn Jahren das Schicksal eines Mannes aus dem Harz dokumentiert ist, der zur Zeit seiner Verhaftung 45 Jahre alt war. Die „Berliner illustrierte Nachtausgabe“ widmete dem Fall Mitte der 1930er Jahre sogar mehrere Folgen eines Tatsachenberichts mit dem Titel „Nr. 137 ist unschuldig – Die Tragödie des ,Fängers‘ aus dem Harz“.

Karl Schmidt wohnt mit Sohn Herbert am Ortsausgang von Thale unweit vom Hexentanzplatz.

Am 31. Mai 1924 hören Vater und Sohn ein krachendes Geräusch an der Haustür. Schmidt Senior läuft dorthin und vernimmt, wie ein Mann ruft: „Aufmachen, aber sofort!“. Der 39-Jährige erkennt die Stimme des Försters. Der Mann in Grün hat die Familie „auf dem Kieker“, weil sie als „Fänger“ – Wilderer – im Ostharz bekannt ist. Auch diesmal inspiziert er die Töpfe, die gerade auf dem Feuer stehen. Aber anstatt des vermuteten Wildbrets schmort ein Karnickel im eigenen Saft. Auch die nachfolgende Hausdurchsuchung ist erfolglos.

Nachdem der Förster mit der Drohung: „Wenn ich euch erwische ...“, gegangen ist, essen die Männer schweigsam. Danach sagt der Vater: „Ich gehe noch zum Nachbarn rüber.“

Seinem Wildererkumpanen und Nachbarn Gustav Baumgarten erzählt er aufgebracht die Geschichte, die er gerade mit dem Förster erlebt hat. Doch der der 40-Jährige, der mit großer Leidenschaft der verbotenen Jagd nachgeht, winkt nur ab. „Ich habe im Neinstedter Forst Schlingen ausgelegt. Wenn Du willst, kannst Du morgen mitkommen, wenn ich nachschauen gehe.“

„Und was würdest Du tun, wenn dir mal ein Pächter oder ein Grünrock in die Quere kommt“, will Schmidt wissen. „Wenn ich eine Waffe hätte, würde ich mich zu wehren wissen“, antwortet Baumgarten.

Zwischen Neinstedt und Stecklenberg jault ein Hund. Das nervt einen Mann aus Thale, der an jenem ersten Junitag mit einigen Freunden ein Picknick am Waldrand macht, dermaßen, dass er nach ihm sucht. Er findet den Jagdhund im Forst. Das Tier sitzt vor einem Mann. Kleidung und Halstuch sind blutverschmiert. Die Ausflügler rufen die Polizei.

Am 2. Juni melden der „Harzer Kurier“ und das „Tageblatt für Thale“, dass der Kaufmann Richard Mellin aus Neinstedt im Hagen 17, östlich vom Stecklenberg, ermordet wurde. Vom Täter fehle jede Spur.

Die Mordkommission um Kommissar Wierhenke konzentriert sich zuerst auf alle, die als Wilderer bekannt sind. Ihre Alibis werden unter die Lupe genommen. Forstarbeiter sagen aus, dass sie am Morgen des 1. Juni aus Richtung Stecklenberg Schüsse gehört haben.

Es wird bekannt, dass Mellin, der in Neinstedt ein Futter- und Düngemittelgeschäft betrieben hat und Jagdpächter war. Er habe immer wieder über die Fallensteller in seinem Revier geschimpft und ihnen gedroht.

Am 10. Juni werden Schmidt und Baumgarten verhaftet. Sie hatten beim Verhör ausgesagt, dass sie am Tattag zu Hause waren. Doch das stellt sich als Lüge heraus. Baumgarten verwickelt sich in Widersprüche. Der mehrfach vorbestrafte Schmidt, in die Enge getrieben, schweigt.

Doch die Indizien reichen nicht aus. Die Haftbefehle werden aufgehoben. Die Männer verlassen Thale. Baumgarten hat Schmidt überredet, mit ihm in die Schweiz zu flüchten. Beide befürchten, dass sie die Ermittler weiter im Visier haben. Doch am 19. Juni werden die „Fänger“ an der Grenze zur Schweiz festgenommen und in die U-Haft nach Halberstadt gebracht. Die Luft wird dünn für sie, denn inzwischen gibt es drei Zeugen, die die Verdächtigen in der Nähe des Tatorts gesehen haben wollen. Die Anklage gegen Schmidt lautet Mord, gegen Baumgarten Jagdvergehen.

Am 12. Dezember 1924 beginnt in Halberstadt der Indizien-Prozess vor dem Schwurgericht. Schmidt beteuert mehrfach seine Unschuld, die Schüsse betreffend.

Kronzeuge ist ein Bekannter des Opfers, der Kaufmann Emil Weißenborn. Er beschreibt detailgetreu das Geschehen am Tattag, an dem er mit Mellin auf der Jagd gewesen war. Er beschreibt, wie sie die Wilderer verfolgt haben, einen gestellt und durchsucht haben, wie sie danach dem zweiten Mann nachgelaufen waren, ihre Warnschüsse und die Todesschüsse vom Rumberg her durch den „Fänger“, den sie zuvor durchsucht hatten. Der Zeuge, der in Schmidt bereits auf einem Polizei-Foto den Schützen erkannt haben will, sagt aus, dass er ihn „mit voller Sicherheit“ wiedererkennt“.

Die Angeklagten werden verurteilt. Schmidt unter anderem wegen Totschlags.

Aus dem Gefängnis heraus, beteuert "Häftling 137" Jahre lang weiter seine Unschuld. Aber es dauert zehn Jahre bis er am 16. März 1935 aufgrund erwiesener Unschuld frei kommt.

Die Wende bringt die Aussage von Martha Wesche. Während einer Blinddarmoperation im Quedlinburger Krankenhaus im März 1935 spricht sie im Delirium. Der Arzt notiert: „... es kommt jetzt doch noch heraus, dass Fritz den Mellin erschossen hat und du einen Meineid geschworen hast.“

Schwager Fritz Wesche hat sich Monate zuvor eine Kugel in den Kopf gejagt, weil er mit seiner Schuld nicht mehr leben konnte. Vor der Staatsanwaltschaft Halberstadt wiederholt Martha Wesche ihre Worte. Aber Ehemann Paul leugnet die Tat. Erst, als der „Waldschänken“-Wirt ans Grab seines Bruders geführt wird, bricht er zusammen. Weil er 1924 unter Eid beim Prozess ausgesagt hat, weder alleine, noch mit seinem Bruder am Tatort gewesen zu sein, wird Paul Wesche wegen Meineids zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.