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Flüchtlinge „Wir haben nicht getrödelt“

Interview mit Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) über den Umgang mit steigenden Flüchtlingszahlen.

Von Jens Schmidt 21.08.2015, 01:01

Herr Minister, in der zweiten Zast sollen in einer ehemaligen Kaserne Plätze für 1000 Flüchtlinge geschaffen werden. Wann werde die ersten einziehen können?

Holger Stahlknecht: Die Entscheidung zum Standort wird das Kabinett zeitnah fällen. Wir streben ein hohes Tempo an, aber ich kann jetzt noch keinen festen Termin nennen.

Aber der Winter steht vor der Tür.

Deshalb sind wir dabei, im Süden des Landes eine weitere Unterkunft einzurichten und während der Umbauarbeiten dieser eine Zwischenlösung zu finden.

Und wenn es schon im Herbst kalt wird?

Wir werden als Notreserve auch Zelte in Halberstadt behalten – diese sind auch beheizbar. Das ist aber nur eine Notvariante und keine Dauerlösung.

Die Flüchtlingszahlen werden sich in diesem Jahr auf gut 23 000 verdoppeln, nächstes Jahr werden es voraussichtlich bis zu 50 000. Warum richten Sie nicht gleich eine dritte und vierte Zast ein – jetzt wo Sie sechs Angebote haben?

Ganz klar – wir brauchen eine dritte Zast mit weiteren 1000 Plätzen. Wir hätten dann insgesamt mehr als 4000 Plätze. Die Zast Halberstadt wird bis Ende Oktober von 1000 auf 2300 Plätze erweitert sein – alle in festen Gebäuden und Containern. Dazu zählen auch die Außenstellen in der ehemaligen Gartenbauschule Quedlinburg und ein Hotel im Harz. Hinzu kämen dann die jeweils 1000 Plätze der zweiten und dritten Zast. Ob wir eine vierte brauchen, müssen wir sehen.

Käme die dritte Zast in den Norden – zum Beispiel nach Magdeburg?

Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Auf alle Fälle sollen die Zentralen in Städten angesiedelt sein, da wir dort die beste Infrastruktur haben, wie Ärzte, Behörden, Nahverkehr.

Seit dem Frühjahr sucht das Land eine zweite Zentrale. Warum dauert das so lange? Warum nutzen Sie keine leerstehende Landesimmobilie, von denen es laut Finanzminister doch so viele gibt?

Wir haben auch Landesimmobilien geprüft. Aber: Ein Amtsgebäude ist noch lange nicht automatisch auch als Unterkunft geeignet, wo Hunderte Menschen leben sollen. Das beginnt bei fehlenden Toiletten und hört beim Brandschutz auf.

So ein Gebäude lässt sich doch umbauen?

Sicher. Aber bauen wir als Land eine Immobilie um, dauert das aufgrund gesetzlicher vorgegebener Ausschreibungspflichten viel länger, als wenn wir den Auftrag für die Herrichtung einer Flüchtlingsunterkunft an private Betreiber vergeben.

Aber wenn das Land für eine dritte Zast wieder vier Monate für das Auswahlverfahren braucht, dann ist wirklich Winter.

Wir haben nicht getrödelt. Beim Auswahlverfahren sind wir aber an gesetzliche Vorgaben gebunden, ich kann den Auftrag nicht einfach von heute auf morgen auf Zuruf vergeben. Jeder Interessent muss ein Konzept vorlegen. Das muss geprüft werden. Wie gesagt: Nicht jedes Gebäude taugt als Unterkunft für 1000 Menschen. Dort müssen auch Ärzte, Helfer und nicht zuletzt auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor Ort arbeiten können.

Allerdings werden wir bei der Auswahl einer dritten Zast sicherlich schneller vorankommen. Erstens fällt die Prüfung von Landesimmobilien weg, da das ja jetzt im ersten Suchverfahren schon erfolgt ist. Und zweitens haben wir jetzt sechs Angebote von Privaten: Wir werden sehen, ob sich darunter ein passendes für einen dritten Standort befindet. Wir prüfen derzeit auch die Option für den Bau einer Zast auf dem Gelände einer Landesliegenschaft.

Aber viele haben den Eindruck, dass das alles viel zu lange dauert. Müssten jetzt nicht Vergabeverfahren beschleunigt werden?

Ja, das halte auch ich für dringend nötig. Wir können bei einem Neubau oder bei der Bestellung von Containern nicht erst wochenlang und europaweit ausschreiben. Ich schlage vor, dass die in Landeskompetenz liegenden Vergaberichtlinien schnellstmöglich geändert werden. Aufgrund der Dringlichkeit wäre eine Gesetzesinitiative aus dem Landtag heraus wünschenswert. Ich werde das bei der Sondersitzung des Innenausschusses am Montag vortragen. Darüber hinaus halte ich Änderungen bundes- und europarechtlicher Vorschriften für geboten.

Die Kreise und Städte fordern vom Land, nur noch jene Flüchtlinge auf die Kommunen zu verteilen, die eine hohe Bleibechance haben. Flüchtlinge vom Balkan, die meist kein Asyl bekommen, sollten in der Zentrale bleiben und von dort zurückgeschickt werden.

Das kann nicht funktionieren. Angesichts der deutlich steigenden Flüchtlingszahlen und der Tatsache, dass derzeit etwa 65 Prozent der Menschen, die zu uns kommen, kein Schutzbedürfnis haben, bräuchten wir an die 10 000 Plätze in Zentralen Unterkünften. So große Kapazitäten bekommen wir beim besten Willen nicht hin. Außerdem wäre das Konfliktpotenzial zu hoch, wenn Hunderte Flüchtlinge etwa aus dem Balkan über Monate auf engstem Raum zusammenleben – in dem Wissen, dass sie Deutschland wieder verlassen müssen. Wir werden deshalb weiterhin Flüchtlinge aus unterschiedlichsten Herkunftsregionen auf die Kommunen verteilen müssen.

Was wir ändern sollten, ist das Anreizsystem. Flüchtlinge, die ohne erkennbare Bleibeperspektive kommen, sollten beispielsweise Sachleistungen statt Geld bekommen.

Syrer erhalten 140 Euro Taschengeld, Albaner Gutscheine – ist so eine Aufteilung nicht problematisch?

Die Möglichkeit, Geldleistungen zu senken und durch Sachleistungen zu ersetzen, besteht bereits jetzt. Die Grenzen dafür hat das Bundesverfassungsgericht auferlegt. Die Anreize müssen überprüft werden, um Missbrauch zu bekämpfen. Insbesondere deshalb, weil wir Kapazitäten brauchen für jene, die vor Krieg und Gewalt fliehen und hier Schutz suchen. Für Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen zu uns kommen wollen, muss es andere Lösungen geben.

Die Gewerkschaft der Polizei hat einen Krisenstab gefordert, der auch die Polizei entlastet.

Ein Krisenstab wie zur Flut wäre dann einzurichten, wenn wir eine Katastrophe hätten. Wir haben aber keine „humanitäre Katastrophe“, wie das die Gewerkschaft meint. Da vergreift sie sich in der Wortwahl. Wir haben eine große Aufgabe, das stimmt. Ich habe daher in der Zast Halberstadt einen Stab eingerichtet, in dem Mitarbeiter aus der Landesverwaltung vor Ort den Flüchtlingen helfen. Natürlich sind auch Polizisten dabei, da gewisse Sicherheitsaufgaben auch zu erledigen sind. Im Übrigen haben wir auf Regierungsebene einen interministeriellen Stab, wo Staatskanzlei, Kultus, Soziales und Innenressort regelmäßig alle Aufgaben absprechen.