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Serie Zeitung ohne viel Federlesen im Kasten

Burger Volksstimme-Redakteure probieren sich in anderen Jobs aus und schauen hinter die Kulissen. Marco Hertzfeld ist Zeitungszusteller.

Von Marco Hertzfeld 07.08.2018, 01:01

Burg l Der Wecker klingelt um kurz vor zwei. Augen auf bei der Berufswahl, denke ich. Waschen, Kaffee und Klamotten anziehen, alles ist wie immer, nur dass es mitten in der Nacht ist. Einige Minuten später stolpere ich hundemüde die Kapellenstraße in Burg entlang, selbst der Mond scheint nur halb. Ich verfluche die Welt und wünsche mich in mein Bett zurück, als irgendwo im Halbdunkel ein Lkw entladen wird. Ich folge den Geräuschen, finde eine Halle und in ihr mehr als ein Dutzend Zusteller der Volksstimme. Mittendrin Edwin Bock. „Na, dann können wir ja gleich los. Die Leute wollen ihre Zeitung pünktlich im Briefkasten haben“, treibt er an. Ich schalte schon einmal einen Gang nach oben.

Stapelweise Zeitungen, Werbung und Post kommen in den Transporter. Alles ist genau abgezählt, vieles schon sortiert. Der 59-Jährige scheint voller Energie und steckt damit an. Wir einigen uns aufs Du. Das frühe Aufstehen sei er gewohnt, sagt Edwin. Seine innere Uhr ist die eines Fleischers, der bereits schuftet, wenn andere noch tief schlafen. Mehr als 30 Jahre hat er in diesem Beruf gearbeitet. Nach mehreren Knieoperationen sei er EU-Rentner und dürfe ausgewählte Jobs annehmen. „Das hier ist genau meins“, schwärmt der Familienvater und dreht den Zündschlüssel um. Mir schwant, dass ich die nächsten Stunden nicht so schnell vergessen werde. Und ich habe mich sogar freiwillig gemeldet.

Es geht in Richtung Schartau. Edwin fährt zügig und kontrolliert. „Sicherheit geht vor, was haben die Leser davon, wenn irgendwas passiert.“ Immer wieder sieht er in der Stadt frühmorgens auch Menschen, die vom Feiern nach Hause gehen. Neid komme da bei ihm nicht auf, im Gegenteil. „Alles hat seine Zeit und feiern kann man auch anders.“ Seit 2015 ist er als Zusteller unterwegs, ohne Unfall. „Ich weiß genau, wo Wild die Straße kreuzen könnte, und halte die Augen offen.“ Plötzlich ist in 50 Metern Entfernung ein störender roter Punkt zu sehen. Edwin stoppt den Wagen, steigt aus und hebt eine Warnleuchte auf „Sie muss von irgendeinem Fahrrad abgefallen sein.“ Sie kommt erst einmal mit.

Mindestens 800 Menschen wohnen in Schartau und Umgebung, es ist sein Revier. Edwin kennt hier jede Straße und jedes Haus, er ist dort aufgewachsen. Sechs Kilometer sind es bis in seinen Wohnort. Ein Langohr läuft durch das Scheinwerferlicht. „Ein Feldhase und kein Kaninchen“, beweist Edwin Qualitäten eines Wildtierschützers. Dann ist Schluss mit lustig. Der Zusteller lenkt den Wagen so dicht heran, dass er die Zeitung in den Briefkasten stecken kann. Ein paar Mal macht er das so. Als ich es mir auf dem Beifahrersitz richtig bequem machen will, bremst der gute Mann und sagt: „Du links, ich rechts.“ Bei Weitem nicht alle Briefkästen lassen sich einfach durchs Fahrerfenster füllen.

Ich bekomme ein paar Zeitungen in die Hand gedrückt, eile los und falle beim ersten Mal fast über meine eigenen Füße. Einen Kasten muss ich länger suchen, das Licht der Straßenlaterne ist dünn. Edwin hat seinen Teil schon geschafft, sitzt im Wagen und meint grinsend: „Wir haben ja ausreichend Zeit. Wichtig ist, dass wir niemanden vergessen.“ Der Schartauer hat eine feste Route im Kopf. „Sie ist wie ein Schneckenhaus aufgebaut, effektiv und logisch.“ Ich werde das System auch am Ende nicht ganz verstanden haben. Es hat sich bewährt und funktioniert. „Wenn doch einmal eine Zeitung fehlt, kommt es zur Reklamation und die Volksstimme wird umgehend nachgesteckt, Ehrensache.“

Mir knurrt der Magen. Edwin lenkt den Transporter weiter, reicht mir Zeitungen und schickt mich in die Spur. Meine Hände riechen nach Zeitung, das kenne ich. Der Zusteller zeigt mir seine, sie sind voller Druckerschwärze. Ich nehme mir die nächsten Exemplare, der Herr Zusteller gibt die Richtung vor. 116 Stück müssen allein in Schartau verteilt werden. Dazu kommt in dieser Nacht für alle Kästen Werbung und wie immer die Biberpost. Ich habe immer noch Hunger. Mein Kollege am Steuer meint nur: „Ich stehe zehn vor eins auf, trinke zwei Tassen Kaffee. Gegessen wird nichts, das schadet nur der Bewegung.“ Für unterwegs nehme er sich oft eine Tafel Schokolade mit. Diesmal nicht.

Sind die Papierpacken aus dem Stützpunkt in Burg mit dem Kastenwagen geholt, fährt der 59-Jährige in der Regel sein eigenes Zuhause an. Egal, auf welchem Weg die Volksstimme auch kommt, so mancher wartet schon und zieht sie sich gleich aus dem Briefkasten. „Zeitung lesen gehört für viele Menschen einfach zum Frühstück dazu“, meint der Zusteller und legt schon wieder den ersten Gang ein. Es ist kurz vor 4 Uhr. Im Autoradio hat Edwin MDR Sachsen-Anhalt eingestellt, seinen Lieblingssender. Helene Fischer singt „Atemlos durch die Nacht“. Ich fordere für den nächsten Stopp schnell weitere Zeitungen.

Edwin und ich verstehen uns. „Kollege Journalist, du bist keine Bremse“, meint er und ich will es glauben. Schartau ist größer als gedacht, dazu die Außengebiete wie das Am Alten Kanal. Der Vater einer Tochter und nicht minder stolze Opa eines Enkels hat auch ein Ohr für Extrawünsche, wenn sie im Rahmen bleiben. „Eine Dame möchte immer eine Folie drum herum, damit die Zeitung auch wirklich unversehrt bleibt. Da bricht mir kein Zacken aus der Krone.“ Es gebe Kunden wie diese und andere, mit allen käme er klar. „Ein böses Wort wird man von mir nicht hören.“ In der Weihnachtszeit liege schon mal da und dort am Kasten ein kleines Geschenk für ihn. „Ein Dankeschön, das aber nicht sein muss.“

Eine Straße weiter schauen wir beide auf eine Liste, ein neuer Leser ist dazugekommen, einer weggefallen. Und weiter geht es, Edwin die eine Seite, ich die andere. Gefühlt hinter jedem zweiten Tor bellt ein Hund. Ärger oder gar Blessuren hat mein Vorarbeiter bislang nicht davongetragen. Er ist selbst ein großer Tierfreund. Sein Beagle ist erst vor Kurzem gestorben. Der Platz soll nicht lange leer bleiben. Die traurigen Gedanken verfliegen, ein jüngerer Mann empfängt seine Zeitung gleich an der Tür und nimmt sie mit zur Arbeit. In einem Haus gegenüber steht eine Frau hinter einem halb hochgezogenen Rollladen und bekommt die Zeitung ebenso unkompliziert durchgereicht. Hallo, danke und tschüss.

Die Straßen sind gut, manche verflucht Edwin aber auch. „Im Herbst oder Winter wird es oft ungemütlich und ich muss doppelt aufpassen.“ Der Schartauer kennt alle Ecken und die Menschen sowieso. Insgesamt gut 340 Haushalte steuern wir an, die erste Tour gehört der Zeitung, dann folgt die Post. Mittwochs und sonnabends verteilt Edwin auch den Generalanzeiger. Es dämmert. „Wir liegen weiterhin gut in der Zeit, obwohl du so viel redest“, meint er und grinst. Meine Augen sind schwer, ich muss gähnen. Edwin lacht. Es gibt so gut wie kein leer stehendes Haus im Burger Ortsteil, fällt mir auf und ich will nachfragen. Doch da ist der 59-Jährige schon wieder aus dem Wagen gestiegen.

Der Niegripper See ist nah, die Landschaft auch so schon reizvoll. In der warmen Jahreszeit zieht es vermehrt Magdeburger ins Burger Umland, sie haben ein Haus und werden zu Edwins Kunden. Einige besitzen vielleicht sogar ein Boot und eine eigene kleine Anlegestelle am Kanal. Auf der Straße in Richtung Tierheim flitzt ein junger Fuchs vors Auto. „Wo willst du denn hin, mein Zarter?!“, meint Edwin und bremst. Wenig später kommt uns der Linienbus in die Landeshauptstadt entgegen, eine Dorfstraße ist keine Autobahn, viel Platz bleibt nicht. Da und dort stehen die Häuser eng, der Schartauer rangiert geschickt. Ans Lenkrad will und kann ich nicht. Es ist halb sieben. Die meterhohen Zeitungsstapel sind abgetragen.