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Behindertensport Ein Magdeburger lässt es krachen

Nicht nur bei den Magdeburger Top-Athleten stehen Saisonhöhepunkte an. Auch die Asse im Behindertensport küren ihre Besten.

Von Janette Beck 28.06.2017, 01:01

Magdeburg/Koblenz l Jens Sauerbier ist ein Sieger mit Handicap. Der Magdeburger kämpft bei der Rollstuhl-Rugby-EM um eine Medaille.

Action, Adrenalin, Auspowern. Jens Sauerbier ist dieser Tage in Koblenz voll in seinem Element. Er lässt es bei der Europameisterschaft im Rollstuhl-Rugby so richtig krachen. Und das buchstäblich. Denn wenn er mit drei seiner Nationalmannschafts-Kollegen das Spielfeld entert und es beim erbitterten Kampf um den Ball zur Sache geht, dann knallen die Spezial-Rollstühle schon mal so heftig zusammen, dass es scheppert.

Ab und zu endet ein Zweikampf auch in der Schräglage. „Es gibt Spiele, da kippe ich drei- bis viermal um“, grinst der 30-Jährige schelmisch und macht dabei mit dem kahlen Kopf, den muskulösen Armen und dem kämpferischen Gesichtsausdruck tatsächlich den Eindruck, als sei er ein „Raubein“, für das nichtbehinderte Rugbyspieler gehalten werden.

Während die Zuschauer noch den Atem anhalten, braucht der Gestürzte oft nur zwei, drei geübte Hebelbewegungen oder, wenn er rausgefallen ist, auch mal eine helfende Hand, um sich wieder in die Senkrechte zu hieven. „Und dann geht’s weiter: Holla die Waldfee!“, lacht Sauerbier jegliche Gedanken an ein Verletzungsrisiko weg. „Das sieht nur so gefährlich aus. Wir wollen nur spielen“, klopft er einen bekannten Hundebesitzer-Spruch. „Mehr als ein paar blaue Flecken oder Schrammen passieren selten.“ Und wenn’s dann doch mal wehtut? Sei‘s drum! Er sei Rugbyspieler und kein Wattepuster. „Wir sind hart im Nehmen.“

Hart im Nehmen, das musste Sauerbier auch sein, als sein Leben mit einem Schlag in zwei Hälften geteilt wurde: Die eine auf zwei Füßen durchs Leben gehend, die andere im Rollstuhl sitzend. Er kickte beim FCM, war talentiert und träumte von einer Karriere als Fußballprofi. Bis er als 16-Jähriger bei der Heimfahrt von einem Spiel in einen tragischen Unfall verwickelt wurde. Seither ist Jens Sauerbier querschnittsgelähmt.

Auch wenn von diesem Moment an alles anders war und neu, geblieben ist die Freude am Sport. Das Aufrichten nach dem Umfallen ist inzwischen eine der leichtesten Übungen für „Stehaufmännchen“ Sauerbier, der seit acht Jahren dem einzigen Vollkontaktsport, den es im paralympischen Programm, frönt. Seit sechs Jahren ist er Nationalspieler. Innerhalb des Teams kommt ihm dabei die Rolle des „Ballvorträgers“ zu. „Beim Fußball würde man Stoßstürmer sagen.“

Zum Rugby kam der Magdeburger durch sein Sportstudium. Er war damals bereits ein erfolgreicher Handbiker und musste an der Uni im praktischen Bereich neben Tischtennis noch eine Mannschaftssportart auswählen. Auf der Messe „Rehacare“ wurde er auf Rollstuhl-Rugby aufmerksam. Diese Sportart erschien ihm als Tetraplegiker (eine Form der Querschnittlähmung, bei der alle vier Gliedmaßen betroffen sind) bestens geeignet. „Unser Sport ist so voller Action, dass es jeden gleich in den Bann zieht. Nicht umsonst lag Rollstuhl-Rugby bei einer Umfrage während der Paralympics in Rio in der Zuschauergunst ganz weit vorne“, wirbt Sauerbier für seine Passion.

Auch den „Adrenalin-Junkie“ habe es sofort gepackt. Binnen kurzer Zeit ging es steil bergauf. „Ich denke, wenn man wie ich mal leistungsmäßig Sport betrieben hat, entwickelt man auch schnell einen großen Ehrgeiz“, so der „Rolli“-Fahrer, der einfach nicht genug vom Rugby bekommen kann. Und so geht er nicht nur für seinen Heimatverein Biederitz in der 2. Bundesliga auf Torjagd, sondern auch in der 1. Liga für die Berlin Raptors. Zudem gibt er Gastspiele in Frankreich und England. „Wir betreiben unter den Behinderten eine Randsportart.“ Gerade mal 350 aktive Rollstuhl-Rugby-Spieler seien in Deutschland registriert. 5000 sind es beim Rollstuhl-Basketball. „Die Saison ist immer sehr kurz: An drei Wochenenden werden vier bis fünf Spiele durchgezogen“, so Sauerbier.

Dabei liegen, wie bei jedem nichtbehinderten Leistungssportler auch, Sieg und Niederlage dicht beieinander. „Viele Gänsehaut-Momente standen im Zeichen des Erfolges“, blickt Sauerbier zurück. Mit den Raptors wurde er zweimal Deutscher Meister, einmal Vize. Davor hatte er mit Karlsruhe die Champions League gewonnen.

Mit der Nationalmannschaft hat es bei drei EM-Starts und einer WM noch nicht zum großen Wurf gereicht. Gar „am Boden zerstört“ sei er nach der verpassten Qualifikation für die Paralympics in Rio gewesen. „Daran hatten wir lange zu knabbern. Als Deutschland dann aber den Zuschlag für die EM bekommen hat, war das wie ein Trostpflaster. Wir hatten wieder ein Ziel.“

Weil die Heim-EM aber „nicht aus Jux und Dollerei ausgerichtet wird, soll diesmal auch etwas Zählbares herauskommen“, betont Sauerbier: Die Familie, meine Freundin Izabela und viele Kumpels seien beim Heimspiel in Koblenz dabei. „Da will man natürlich niemanden enttäuschen.“ Eine Medaille wäre „geil“, Minimal-Ziel ist das Erreichen des Halbfinales. „Damit wären wir für die WM 2018 in Sydney qualifiziert.“ Heißt, die deutsche Mannschaft muss unter die ersten zwei ihrer 6 er-Gruppe kommen.

Sieger mit Handicap sind auch Marcel March und Paul Hünecke aus Magdeburg. Sie gehen bei den World Transplant Games an den Start.