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In den Ruinen Ein "städtischer Robinson" im Berliner Bombenkrieg

Ein Schriftsteller erlebt die verheerenden Bombenangriffe auf Berlin im Zweiten Weltkrieg und irrt als "städtischer Robinson" zwischen den Trümmern umher. In jetzt erstmals veröffentlichten Briefen hat Martin Kessel den damaligen "Berliner Horror-Alltag" festgehalten.

Von Wilfried Mommert, dpa 17.12.2019, 13:40

Berlin (dpa) - "Elefanten wurden erschossen, ein Krokodil krauchte auf der Budapester Straße umher", der Kurfürstendamm "völlig im Rauch, das Romanische Café, Gloria-Palast, der ganze Zoo: es ist alles verbrannt."

Diese Eindrücke nach einer Bombennacht schildert der Schriftsteller Martin Kessel nach dem verheerenden Luftangriff auf Berlin vom 22. zum 23. November 1943, der auch weite Teile des Berliner Westens mit dem Amüsierviertel am Kudamm und dem Zoologischen Garten in Schutt und Asche legte, in jetzt erstmals veröffentlichten Briefen von damals. Sie befinden sich im Literaturarchiv Marbach und sind im neuen Heft der Zeitschrift "Sinn und Form" (6/2019) abgedruckt, die von der Berliner Akademie der Künste herausgegeben wird.

Kessels Beobachtungen der brennenden Trümmerwelt sind in den Briefen oft gepaart mit - zeitbedingt vorsichtigen - kritischen Anmerkungen, nicht nur politischen, sondern auch sozialkritischen Spitzen. Er sieht fast alles in Flammen, "die riesigen wilhelminischen Wohlstandskästen und Hotelpensionen am Kurfürstendamm", die "hiesigen Zwölfzimmerherrschaften" irren auf den Straßen umher, "einen Schleier vors Gesicht oder eine Autobrille, Pelzmantel an und ein Bündel unterm Arm... in den Lungen, in den Augen ein Gerinnsel von Rauch". Am Potsdamer Platz brennt das berühmte Varieté "Haus Vaterland", nicht weit davon auch das Gebäude des Oberkommandos des Heeres im Bendlerblock, auch Kempinski brennt, Straßenbahnen stehen als verbrannte Blechkästen umher.

Schon Jahre zuvor hatte es bald nach Beginn des Krieges die ersten, noch vereinzelten Luftangriffe auf Berlin gegeben. 1940 berichtet Kessel von einem verschütteten Keller am Savignyplatz, wo "alles erschlagen" wurde oder erstickte beim Zusammensturz eines getroffenen Wohnhauses. Den meisten Bewohnern der Millionenstadt standen meist nur die eigenen Keller für die erste und schnelle Rettung bei Luftalarm zur Verfügung. Größere Luftschutzräume und -bunker wurden erst nach und nach in der damaligen Reichhauptstadt errichtet, die übrigens mancherorts später auch zur Aufbewahrung von Museumsschätzen dienten, wie der Zoobunker, in dem angeblich zahlreiche kostbare Gemälde aus den Schätzen der Berliner Museen verbrannt sein sollen, andere Quellen sprechen allerdings auch von Museums-Abtransporten durch die Rote Armee Richtung Moskau.

Bald nach Kriegsbeginn hatte es die ersten Versorgungsprobleme in der Millionenstadt gegeben. "In der Invalidenstraße stehen sie zu hunderten nach Pferdefleisch an, es soll auch Katzen und Hunde geben", schreibt Kessel. 1944 schlägt sich der "Trümmerflaneur", wie ihn der Literaturwissenschaftler Till Greite in seinem informativen Begleittext nennt, auf der Suche nach Nahrung durch die Ruinen der Reichshauptstadt durch ("die stilvolle Einheitlichkeit der Ruine Berlin"), um gleichzeitig auch die "geistige Nahrung" nicht zu vernachlässigen, selbst oder gerade in Notzeiten.

"Das letzte Glück sind die Rundfunk-Konzerte", zu hören mit dem "schon etwas angepufften, röhrenden Volksempfänger", vom Volksmund auch "Goebbels-Schnauze" genannt. Man müsse versuchen, am Leben zu bleiben, meint Kessel so nüchtern wie realistisch. "Weltreiche sind schon versunken, aber es bleibt noch Homer. Was sollte werden, wenn wir diese Überzeugung verlören - ich meine, was würde aus uns selber? Am Ende selber ein Haufen Schutt."

Der 1990 gestorbene Kessel gehöre "zu jener von der Literaturgeschichte vernachlässigten Generation der um 1900 Geborenen, die von totalitären Erfahrungen besonders heimgesucht wurden und sich mitunter in ihre unheilvolle Zeugenschaft verstrickten", schreibt Till Greite über den Autor in den Erläuterungen zu den Briefen Kessels. Der "Überlebende", habe Kessel einmal bekannt, sei dabei von "zweifelhafter Redlichkeit... gemessen am Schweigen der Opfer". Sein bekanntestes Buch ist "Herr Brechers Fiasko" von 1932, ein Roman "von den Straßen Berlins gesammelt", wie Kessel dazu meinte.

Sinn und Form, Heft 6/2019, herausgegeben von der Akademie der Künste Berlin, ISBN 978-3-943297-50-8

Sinn und Form