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Architektur Christus als Weltenherrscher

An kommenden Freitag soll mit dem Freitagsgebet die Hagia Sophia in Istanbul wieder als Moschee eröffnet werden.

Von Uwe Kreißig 21.07.2020, 01:01

Istanbul l Der Befehl von Mehmet II. war eindeutig: Nach der Eroberung von Konstantinopel am 29. Mai 1453 stand die Stadt der Plünderung durch seine Truppen frei. Das war überall vollkommen üblich. Wer aber die Hagia Sophia beschädige, würde mit dem Tod bestraft werden. Der imagebewusste Sultan der Osmanen hatte mit dem eindrucksvollsten Kirchenbau des römischen Reiches besondere Pläne.

Sofort nach der Besetzung Konstantinopels durch die Osmanen wurde die Hagia Sophia von abgestellten Soldaten beschützt und von einer Kirche zu einer Moschee umgewidmet. Verändert wurde seinerzeit am Baukörper, der den Spitzenstand der römisch-antiken Baukunst darstellte und erst mit dem Bau des neuen Petersdoms in Rom in bautechnischer Hinsicht übertroffen wurde, kaum etwas. Und dafür gab es auch keinen Grund: Die Hagia Sophia galt schon damals als unübertrefflich. Im Inneren des Baus wurden aber vermutlich die großflächig vorhandenen Mosaike überputzt, wobei der Putz teilweise mit Ornamenten übermalt wurde. Dass es von den byzantinischen Mosaiken viele gegeben haben muss, lässt sich heute an jenen Stellen ersehen, wo der Putz abgefallen oder aus unbekannten Gründen wieder entfernt wurde.

Bereits während der Belagerung der Weltstadt, in der zeitweise bis zu 700 000 Menschen gelebt haben sollen und die im April 1453 maximal noch 40 000 Einwohner hatte, waren die Pläne von Mehmet II. klar umrissen worden: Er wollte als muslimischer Führer das Erbe der oströmischen Kaiser, die dort über 1000 Jahre geherrscht hatten, antreten. Und dieses Erbe war riesig – vor allem ideell. Denn die oströmischen Kaiser betrachteten sich als legitime Nachfolger der Kaiser, die einst in Rom residiert hatten.

Der Bau der Hagia Sophia war ein politisches Projekt gewesen und ging auf Kaiser Justinian („Niemand wird wegen seiner Gedanken bestraft.“) zurück, dem wir auch den Rechtskodex „Corpus iuris civiles“ verdanken. Der Herrscher hatte den sogenannten Nika-Aufstand knapp überlebt und rächte sich mit einem Blutbad auf dem Hippodrom an seinen Gegnern. Nun wollte er mit einem unübertroffenen Bauwerk die wiedergewonnene Macht darstellen. Der Vorgängerbau war im Nika-Aufstand in Brand gesteckt worden.

Die Baumeister Isidor von Milet und Anthemios von Tralleis begannen mit der Umsetzung von Justinians Auftrag 532 nach Christus. Den Kuppeldurchmesser des Pantheons in Rom mit über 43 Meter konnte man nicht erreichen, zumal kein römischer Beton zur Verfügung stand. Aber man plante viel kühner: Es sollte eine „schwebende Kuppel“ entstehen, deren Effekt darauf beruhte, dass sie extrem flach ausgebildet war. Ihnen gelang Unglaubliches: Bereits fünf Jahre später war der Bau vollendet.

Allerdings hatte man bei der superflachen Kuppel die statischen Möglichkeiten überdehnt. Bei einem Erdbeben – die Gegend um das Marmara-Meer und den Bosporus ist in dieser Hinsicht stark gefährdet – stürzte die Kuppel im Jahr 558 ein. Indem man beim Wiederaufbau die Wölbung erhöhte, wurde das Bauwerk entlastet. Diese Form hat nun seit 562 Bestand, während spätere Abstützmauern, die man aus statischen Gründen ansetzen musste, sowie die Minarette und Türben, die aus osmanischer Zeit stammen, den Eindruck des Bauwerks von außen deutlich veränderten.

Die Übernahme des Bauwerks, das auch zu diesem Zeitpunkt noch der eindrucksvollste Bau der Antike war, bildete den Mittelpunkt im Herrschaftsszenario von Mehmet II. Dass der Sultan für den Beschuss der byzantinischen Stadtmauern einen ungarischen Geschützgießer namens Orbán anheuerte, der ihm großkalibrige Kanonen produzierte, ist eine amüsante Petitesse der Geschichte.

Als den Verteidigern bewusst wurde, dass die Stadt in Kürze fallen wird, versammelte der letzte byzantinische Kaiser Konstantin XII. Palaiologos Teile des Adels und der Restbevölkerung sowie die Verteidiger zu einer letzten Messe in der Hagia Sophia. Gemeinsam betete man, gemeinsam würde man einen Tag später in den Untergang gehen. Es war „die Totenmesse des oströmischen Reichs“, wie Stefan Zweig in seinem Buch „Sternstunden der Menschheit“ schrieb.

All diese Entwicklungen kamen nicht zufällig, sondern waren absehbar. Nachdem die Mongolen unter Timur Leng sich nur relativ kurz in Anatolien etablierten, konnten die Osmanen später in Kleinasien, dem östlichen Mittelmeerraum und Osteuropa zu einer Weltmacht expandieren.

Dass Atatürk, der Retter und Modernisierer der Türkei, der den Islam als wesentliches Hindernis für eine Modernisierung des Landes betrachtete, rund 500 Jahre nach der Umwidmung die Hagia Sophia zum Museum machte, war in der Türkei immer umstritten gewesen. Für Atatürk war es auch ein politisches Signal.

Es ist nicht übersehbar, dass der türkische Staatschef Erdogan mit der Rückumwandlung der Hagia Sophia in die ideelle Nachfolge Mehmet des Eroberers eintreten will und nicht in jene Atatürks, dessen Rolle im Land zunehmend marginalisiert erscheint. Für Erdogan stellt die Übernahme der Hagia Sophia ein politisches Füllhorn dar, aus dem sich praktisch jede Intention ableiten, beweisen und begründen lässt.

Nach islamischem Recht ist die Rückübertragung allerdings zumindest fragwürdig. Insbesondere für sunnitische Fundamentalisten, die für Erdogan immer wieder ein Problem im eigenen Land waren, ist eine solche Umwandlung undenkbar. Man erinnert sich an „leichtere Fälle“: In der ersten Hälfte der neunziger Jahre forderten türkische Islamisten den Abriss der „Theodosianischen Mauer“ in Istanbul, weil sie „vorislamisch“ sei. Dass die Stadtmauer erst kurz zuvor saniert und zu den großen Touristenattraktionen der Metropole zählt, war belanglos.

Dass sich die Rückumwandlung der Hagia Sophia für Präsident Erdogan rächen könnte, bleibt die Hoffnung seiner Gegner. Ein subtiler Aspekt ist das von Architekturhistorikern vermutete Großmosaik unter der großen Kuppel. Man glaubt, über Hinweise zu verfügen, dass sich dort das Mosaik eines „Christus Pantokrator“ befindet, das im 15. Jahrhundert lediglich überputzt und dann bemalt wurde. Eine solche Ausgestaltung war für byzantische Kuppelkirchen keine Seltenheit. In der Hagia Sophia, die bereits zu ihrer Bauzeit eine der wichtigsten Kirchen des Christentums war, versteht sich eine solche Ausgestaltung ohnehin von selbst.

Istanbul liegt in der Nordanatolischen Verwerfungszone, und es könnte bereits in naher Zukunft wieder zu einem starken Erdbeben kommen. Wenn durch die zu erwartenden Schäden in der Kuppel der Hagia Sophia dann Teile eines „Christus Pantokrator" sichtbar würden, wäre dies in einem Museum kein Problem. Für eine Moschee, geweiht vom türkischen Präsidenten, wäre es das schlimmstmögliche Szenario. Denn „Christus Pantokrator" heißt übersetzt „Christus als Weltenherrscher". Und die ungeplante Freilegung des Mosaiks könnte man als Zeichen Gottes deuten.