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Das Unfassbare fassen - Literatur nach dem Mauerfall

23.07.2014, 09:01

Berlin Wo bleibt der große deutsche Einheitsroman? Nach dem Fall der Mauer und den Umbrüchen 1989/90 beschäftigten sich die Feuilletons jahrelang mit dieser Frage.

Noch 1995 bemerkte der Literaturkritiker Volker Hage: "Die Deutsche Einheit scheint den Schriftstellern die Sprache verschlagen zu haben."

Und der Autor Jurek Becker notierte: "In vielen Schriftstellerzimmern schwebt die Erwartung wie eine fürchterliche giftige Wolke." So war es denn eher eine neue, unvorbelastete Autorengeneration, die sich nach und nach an die Themen wagte.

Auf Anhieb ein Kultbuch wurde 1995 Thomas Brussigs bitterböse Satire "Helden wie wir". Schonungslos macht sich der gebürtige Ostberliner ("Sonnenallee") über den realsozialistischen Alltag im Arbeiter-und- Bauern-Staat her. "Sehen Sie sich die Ostdeutschen an, vor und nach dem Fall der Mauer", schreibt er. "Vorher passiv, nachher passiv - wie sollen die je die Mauer umgeschmissen haben?"

In ernsterem Ton folgt 1998 Ingo Schulzes hochgelobter Episodenroman "Simple Storys". In 29 lose miteinander verknüpften Geschichten erzählt der heute 51-jährige Dresdner ohne jede "Nachwendeweinerlichkei" ("Stuttgarter Zeitung") von den Sorgen, Ängsten und Verlusten kleiner Leute in seinem damaligen thüringischen Wohnort Altenburg.

Mit seinem Gesamtwerk bis hin zur 2008 erschienenen Ost-West-Tragikomödie "Adam und Evelyn" gilt Schulze als einer der zuverlässigsten Chronisten des ostdeutschen "Beitritts", wie er die Vereinigung bis heute nennt. "Der Osten steht auch nach 25 Jahren nicht auf eigenen Beinen", sagt er in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa.

Genau solche Befürchtungen waren es, die den älteren, einst in der DDR etablierten Autoren die neue Zeit fremd machten. Neben Stefan Heym, Volker Braun, Ulrich Plenzdorf, Heiner Müller oder Christoph Hein steht dafür beispielhaft vor allem Christa Wolf, Symbolfigur und moralische Übermutter der DDR-Literatur.

Noch fünf Tage vor dem Fall der Mauer am 9. November 1989 warb sie bei einer Massenkundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz für eine "wahrhaft demokratische Umgestaltung" der DDR: "Stell Dir vor, es ist Sozialismus, und keiner geht weg." Wenige Wochen später unterschrieb sie mit namhaften Kollegen den Aufruf "Für unser Land" - ein letzter Rettungsversuch. Mit der friedlichen Revolution war sie kurzzeitig sogar als erstes freigewähltes Staatsoberhaupt der DDR im Gespräch.

Doch die Geschichte nahm bekanntlich eine andere Wende, Christa Wolf zog sich aus den aktuellen Debatten zurück. 1990 löste sie mit ihrer schon 1979 verfassten Stasi-Erzählung "Was bleibt" den deutsch-deutschen Literaturstreit aus. Ihr wurde vorgeworfen, sich nachträglich auf die Seite der Opfer schlagen zu wollen. Aber es ging auch um die mögliche Mitschuld von "Staatsschriftstellern" am Erhalt des diktatorischen Regimes. Nach einer literarischen Pause erschien erst 1996 ihr erstes Nach-Wende-Werk "Medea".

Auch Günter Grass, das westliche Gegenbild zu Christa Wolf, leistete mit seinem zeithistorisch ausholenden Wende-Roman "Ein weites Feld" (1995) nicht die erhoffte Aufarbeitung. Der "Spiegel" erschien mit einem Titelbild, auf dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki
das Buch buchstäblich zerriss. Und das Roman-Zitat einer "
kommoden
Diktatur" wurde zum geflügelten Wort. Wie viele Ostkollegen, zu denen er seit jeher engen Kontakt pflegte, fürchtete Grass durch die Einheit ein Wiederaufleben deutscher Großmachtssucht.


Unbeschwerter gehen auch im neuen Jahrtausend jüngere Autoren das deutsch-deutsche Thema an. Nach Clemens Meyers hinreißendem Romandebüt "Als wir träumten" (2006) über eine Clique entwurzelter Wendeverlierer in Leipzig machte Uwe Tellkamp mit seinem vielschichtigen Gesellschaftsporträt "Der Turm" (2008) Furore.

Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkéwicz empfahl den Abgesang auf die DDR am Beispiel des Dresdner Gutbürgertums persönlich als "großen Wenderoman". Tellkamp erhielt für den Bestseller den Deutschen Buchpreis, es gab eine Theateradaption und einen erfolgreichen ARD-Zweiteiler. Derzeit arbeitet der Autor an einer Fortschreibung, bei der er sich nach eigenem Bekunden von der "beengenden Ossi-Wessi-Perspektive" freimachen will.

Für Aufsehen sorgte auch Eugen Ruges autobiografisch gefärbter Montage-Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" (2011), der die Geschichte der DDR über vier Generationen hinweg am Beispiel einer Familie schildert. Auch dieser Roman wurde mit dem begehrten Deutschen Buchpreis ausgezeichnet.

Jetzt, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls, überschlagen sich die Verlage geradezu mit neuen Büchern zu deutsch-deutschen Befindlichkeiten. Die Geschichten über die Sehnsüchte und Hoffnungen, vor allem aber die Verwerfungen und Enttäuschungen der Umbruchzeit 1989/90 scheinen noch längst nicht auserzählt. Mit einem Abstand von einem Vierteljahrhundert ist für manche Themen der Blick sogar eher noch geschärft.