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Tiere Lostau: Vögel fangen für die Wissenschaft

Die Vogelberingung ist kein Hobby für Stubenhocker – und sie dient dem Sammeln wissenschaftlicher Daten. Zwei Ornithologen berichten auf den Lostauer Binnendünen.

Von Raphael Irmer 08.12.2023, 06:01
Helmut Stein (im Bild) hat eine Rohrammer gefangen. Es ist seine 871. Neuberingung in diesem Jahr.
Helmut Stein (im Bild) hat eine Rohrammer gefangen. Es ist seine 871. Neuberingung in diesem Jahr. Foto: Raphael Irmer

Lostau - An einem Morgen um halb zehn. Auf den Lostauer Binnendünen hat sich eine Rohrammer mit einem Flügel und ihren Beinen in einem aufgespannten Netz verfangen. Helmut Stein (87) nimmt sie vorsichtig heraus. Den Vogel steckt er vorsichtig und routiniert in ein Baumwollsäckchen. Dann geht er zu seinem Auto, wo im Kofferraum einige Materialien bereit liegen.

Mit diesen bestimmt er die Art des Vogels, das Alter, das Geschlecht sowie Größe und Gewicht. Die Daten hält er in einem gebundenen Notizbuch fest. Anschließend bekommt die Rohrammer einen kleinen Aluminium-Ring um eines ihrer Beine gelegt und wird wieder freigelassen.

Ehrenamtliche Tätigkeit

Nur wenige Minuten hat diese Angelegenheit gedauert. „Das war die 871. Neuberingung in diesem Jahr“, sagt Stein. Insgesamt habe der 87-Jährige in seinem Leben schon um die 50.000 wildlebende Vögel beringt. Das Interesse an der Vogelkunde hat er seit seinem 12. Lebensjahr, berichtet er.

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Mit dem Beringen hat er Ende der 1960er Jahre angefangen. Und seit der Wende wird er dabei unterstützt von Mario Birth (72), der ebenfalls Vogelberinger ist. Die beiden Rentner treffen sich regelmäßig in Gebieten der Elbaue, um im Schilf, in Gebüschen oder in Wäldern Vögel zu fangen und zu beringen.

Futterfallen mit Gezwitscher

Gefangen werden die wildlebenden Vögel mit feinmaschigen Netzen, aber auch andere Materialien kommen zum Einsatz – etwa Reusen für Wasservögel am Uferrand oder Futterklappen. Um die Tiere anzulocken, werden Futterstellen präpariert. Zu diesem Zweck wird, je nach Wetterlage, mitunter auch eine elektronische Musikbox aufgestellt, die als Klang-Attrappe künstliches Vogelgezwitscher abspielt.

Gefangen wurde dieser Bienenfresser mit einem Netz, das an einem Gebüsch aufgespannt wurde. Angelockt wurde er mit  einer preparierten Futterstelle und künstlichem Vogelgezwitscher. Zum Überwintern zieht der Bienenfresser in südliche Gebiete des afrikanischen Kontinents.
Gefangen wurde dieser Bienenfresser mit einem Netz, das an einem Gebüsch aufgespannt wurde. Angelockt wurde er mit einer preparierten Futterstelle und künstlichem Vogelgezwitscher. Zum Überwintern zieht der Bienenfresser in südliche Gebiete des afrikanischen Kontinents.
Foto: Mario Birth

Das Beringen ist für die beiden mehr als nur ein Hobby. Sie wollen damit zum wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn beitragen. „Durch die Beringung wird das Leben der Vögel, ihre Biologie erforscht“, kommentiert Helmut Stein. Stein und Birth bekommen bei ihrer Tätigkeit seit mehreren Jahren Unterstützung. Hartmut Meyer, Geschäftsführer des Möseraner Landwirtschaftsbetriebes „Gut Paulshof“, sponsert den beiden Sonnenblumenkerne als Futter für die Vögel.

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„Die Beringung ist ein wichtiger Beitrag, um das Verhalten von einzelnen Vögeln über einen langen Zeitraum zu verfolgen“, sagt der Landwirt Meyer auf Nachfrage der Volksstimme. Und auch er betont: „Damit werden wichtige Daten erhoben, die der Wissenschaft zur Verfügung stehen.“ Höhepunkte bei der Vogelberingung sind vor allem die ganz seltenen Fänge. Das sind zum Beispiel Arten wie der Bienenfresser mit seinem bunten Federkleid. Laut Naturschutzbund (Nabu) gibt es in Sachsen-Anhalt nur wenige Brutpaare dieser Art. Zum Überwintern zieht der Bienenfresser in südliche Gebiete des afrikanischen Kontinents.

Ein zweiter für die Wissenschaft interessanter Fang war der eines Dunkellaubsängers. Dieser brütet gewöhnlich im hohen Norden Mittelsibiriens und überwintert zumeist in Südostasien, selten in Mitteleuropa. Doch am 3. November 2017 wurde er von Stein und Birth in der Nähe von Lostau gefangen. Solche seltenen Fänge können an eine Dokumentationsstelle für seltene Vogelarten in Einbeck mitgeteilt werden.

Nutzen für die Wissenschaft

Für die Wissenschaft viel interessanter sind aber Wiederfänge. Denn wenn ein bereits beringter Vogel erneut im Netz landet, lassen sich Rückschlüsse zu dem Zug- und Brutverhalten des einzelnen Individuums oder auch der ganzen Population ziehen.

Stein nennt ein Beispiel. Eine am 11. Oktober 2016 beringte Blaumeise haben Birth und er am 1. November 2023, also nach sieben Jahren, wiedergefangen. Bereits im Jahr 2016 trug sie ihr Alterstkleid. Der Vogelkundler Stein erklärt, weshalb das interessant ist: „Die mittlere Lebenserwartung bei Blaumeisen beträgt nicht einmal zwei Jahre.“

Bevor der Vogel einen Aluminium-Ring bekommt, werden die Art, das Alter, das Geschlecht sowie Größe und Gewicht bestimmt. Die Daten werden in einem Notizbuch festgehalten und an die Beringungszentrale Hiddensee übermittelt.
Bevor der Vogel einen Aluminium-Ring bekommt, werden die Art, das Alter, das Geschlecht sowie Größe und Gewicht bestimmt. Die Daten werden in einem Notizbuch festgehalten und an die Beringungszentrale Hiddensee übermittelt.
Foto: Raphael Irmer

Während kleine Vögel nur einen Aluminium-Ring um einen Fuß bekommen, kriegen größere Vögel teilweise einen GPS-Sender. An einem Tag fangen die beiden Rentner nach eigenen Angaben bis zu zehn Vögel. Da die Wiederfangrate dabei jedoch relativ gering ist, muss man möglichst viele Vögel fangen, erhärt der Vogelkundler Birth.

Die Daten zu den neuberingten und wiedergefangenen Vögeln melden sie an die Beringungszentrale Hiddensee. Diese liegt auf der gleichnamigen Ostsee-Insel in Mecklenburg-Vorpommern. Zweifelsohne bedeuten das Fangen und die Beringung eine Belastung für den einzelnen Vogel. Es löst bei dem Tier Stress aus.

Das bestätigt auf Volksstimme-Nachfrage auch der Leiter der Beringungszentrale Hiddensee, Christof Herrmann: „Risiken für den Vogel sind nicht vollkommen auszuschließen“, sagt er und verweist auch auf den §1 des Tierschutzgesetzes. Dort heißt es: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden hinzufügen.“

Belastung für die Tiere

Der zu erwartende Wissensgewinn sei laut Herrmann „zweifelsohne im Sinne des Tierschutzgesetzes ein ’vernünftiger Grund’, der es rechtfertigt, Vögel der Belastung durch das Fangen und Beringen auszusetzen“.

Seit der Wende beringt Mario Birth (im Bild) gemeinsam mit Helmut Stein die Vögel.
Seit der Wende beringt Mario Birth (im Bild) gemeinsam mit Helmut Stein die Vögel.
Fotos: Raphael Irmer

Auch der Landesverband Sachsen-Anhalt des Deutschen Tierschutzbundes erklärt auch Nachfrage der Volksstimme, dass die Vogelberingung „seit langem ein fester Bestandteil der Naturschutzforschung“ ist. Mit den Erkenntnissen könne neben der Erforschung langfristig auch zum Schutz von Populationen beigetragen werden.

Kritisch blickt der Tierschutzbund jedoch auf den Einsatz von Halsringen bei Enten oder Gänsen sowie auf Flügelmarken, die teilweise bei Greifvögeln eingesetzt würden: „Bei diesen sind erhebliche Beeinträchtigungen für die Vögel keinesfalls auszuschließen.“