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Vor zehn Jahren stand das Elbehochwasser beinahe "Unterkante Oberlippe" / Helfer-Zorn entlud sich im Barbyer Rathaus Dramatik: Bei Lödderitz droht ein Deichbruch

Von Thomas Linßner 16.08.2012, 05:21

Die dramatischsten Ereignisse spielten sich im Raum Barby-Breitenhagen-Lödderitz zwischen dem 16. und 19. August ab. Was mit dem Zumauern von Fenstern und Türen begann, gipfelte in einem Fast-Deichbruch bei Lödderitz. Eine Chronologie.

Barby l Freitag, 16. August: Es werden Türen und Tore zugemauert, tausende Sandsäcke gefüllt. Am Barbyer Brücktor lässt die Stadt eine Holzbarriere errichten, wie sie es dort noch nie bei einem Hochwasser gab. Sogar die Supermärkte schließen am Mittag.

"Wir müssen jetzt aufpassen, dass uns die alten Leute nicht kollabieren", sagt eine Pflegedienst-Schwester. Die Reha-Klinik schickt ihre Patienten und Gäste nach Hause. Die oberen Räume werden als Notquartiere vorbereitet.

Bei der Krisensitzung im Rathaus verfasst man Evakuierungspläne. Die Polizei fährt mit einem Lautsprecherwagen durch die Stadt. Am Sonntag könnte mit den Evakuierungen begonnen werden. Verwaltungsleiterin Ines Schlegelmilch empfiehlt, Vieh- und Haustiere schon jetzt in Sicherheit zu bringen. Die Barbyer werden dazu aufgerufen, sich selbst um Ausweichquartiere außerhalb des elbnahen Raums zu suchen.

Die Alten erinnern sich, dass es wie im Krieg ist: Wenn ein lang anhaltender Drei-Minuten-Sirenenton erfolgt, dann steht der Pegel etwa 30 Zentimeter unter dem tiefsten Punkt der Dammkrone. Die Bürger haben von da an noch etwa drei Stunden Zeit, das Notwendigste zu packen und das Gefahrengebiet selbständig zu verlassen.

Die Sparkassenfiliale hält den Geldbetrieb nur noch bis Freitag Mittag aufrecht, die Apotheke ist seit Donnerstag geschlossen. Weil im Falle des Überlaufens oder eines Dammbruchs der Strom abgeschaltet wird, funktionieren auch Telefone und teilweise Handys nicht mehr.

Am Vormittag macht ein Gerücht die Runde, dass ein Damm "in Richtung Schönebeck" gebrochen sei. Es handelt sich um eine Falschinformation.

Zorn: Alles ist umsonst

Sonnabend, 17. August: Über 3000 Helfer sind im Einsatz, um die Deiche bei Barby zu retten. Die Menschen reisen sogar aus mehreren Bundesländern an, nachdem sie die Bitte um Hilfe im Radio gehört hatten.

In Breitenhagen stehen 190000 Sandsäcke bereit. Die Bundeswehr hilft. Der aus Breitenhagen stammende Leutnant Tino Grötschel schreibt in sein Tagebuch: "Die Präsenz des Militärs hat eine positive psychologische Wirkung auf die Zivilbevölkerung."

Einige hundert Menschen sind kurz vor Mitternacht dabei, den Deichfuß vom Rosenburger Damm mit tausenden Sandsäcken zu beschweren. Der Grund: stellenweise austretendes Sickerwasser. Der Einsatz wird von THW-Verbänden geleitet, die schon bei der Oderflut Erfahrungen sammelten. Plötzlich werden die Leute lautstark durch Hans Pohlenz - er ist Bereichsleiter im Amt für Hochwasserschutz - aufgefordert, die Arbeiten einzustellen. Der Mann teilt kurz mit, dass das Packen der Säcke mehr Schaden anrichtet, als Nutzen. Die Helfer sind sprachlos und frustriert. Keiner versteht, was los ist.

Kurz darauf rückt die Bundeswehr an, weil angeblich in Richtung "Eschen" der Deich zu brechen droht. Diese Aussage ist blitzschnell \'rum. Sofort macht wieder ein Gerücht die Runde, das man in Breitenhagen, Glinde oder Barby in den letzten drei Tagen oft hörte: Ihr jeweiliger Ort solle "geopfert" werden, damit Schönebeck und Magdeburg nicht absaufen. Verlässliche Informationen gibt es nicht. Die Stadt, die ja nicht Leiter des Katastropheneinsatzes ist, sondern sich mit logistischen und organisatorischen Dingen rum quälen muss, kann auch keine befriedigende Auskunft geben. Ein Dutzend Helfer dringt wutentbrannt bis zu VG-Leiterin Ines Schlegelmilch vor. Es ist 0.45 Uhr. Die Anspannung der vergangenen Tage und der Zorn der Bürger zerren an ihren Nerven, dass ihr Tränen in den Augen stehen.

Reporter beschimpft

Sonntag, 18. August: Auf dem Rosenburger Damm werden die Säcke wieder aufgenommen und abtransportiert. Zwei Reporter der Volksstimme, die mit dem Paddelboot die Szene von der Elbseite aus fotografieren, werden für Katastrophentouristen gehalten und übel beschimpft. Auch die Nerven der Freiwilligen liegen blank.

Die täglich im Rathaus einberufene Katastrophenrunde wird zum ersten Mal fachlich informiert.

Christian Jung, Leiter Amt für Hochwasserschutz Schönebeck: "Was bei Oderdeichen richtig war, ist bei unseren Deichen falsch und schädlich." Während in Brandenburg zum Deichbau vorwiegend Sand benutzt wurde, sind es hier schwere und lehmige Böden. Fazit: Die am Sonnabend von rund 3000 Freiwilligen gestapelten Säcke werden wieder abgetragen. Wieso erklärte das keiner früher? Christian Jung weist drauf hin, dass die Kommunen seit Jahren per Gesetz verpflichtet sind, Wasserwehren zu bilden ...

Montag, 19. August: Die Flutwelle mit einem Scheitel von 7,01 Metern am Pegel Barby erreicht unser Gebiet in der Nacht vom 18. zum 19. August. Durch das steigende Drängwasser laufen die Hausabwässer und Fäkalien nicht mehr überall ab.

Schon am Sonntag wurde mit tausenden Sandsäcken die Stadtmauer gesichert. Der Wasserstand auf der Elbseite ist dort höher als das dahinter liegende Gelände. Durch den Druck könnte sie umstürzen. Von außen recht ansehnlich, ist sie auf der Stadt zugewandten Seite zum Teil marode. Sanierungsforderungen wurden von Jahr zu Jahr immer wieder wegen Geldmangel verschoben.

Ebenso verhält es sich mit einem Rohr, dass das Gelände der Fischerhäuser entwässern helfen soll. Es liegt zwischen Elbbrücke und "Durchlass" im Bahndamm und ist völlig verstopft. Diese Entwässerung wurde bereits vor 130 Jahren im Bahndamm verlegt und war in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt worden.

In Breitenhagen sind mittlerweile alte Bürger und Kinder nach Calbe oder zu Verwandten außerhalb des Krisengebietes gebracht worden.

Gegen 9.30 Uhr gefriert der Deichwache bei einem Kontrollgang im Lödderitzer Forst bald das Blut in den Adern: Rund 50 Quadratmeter Deich beginnen abzurutschen. Ein typisches Anzeichen für einen bevorstehenden Dammbruch, der sich schnell auf einer Breite von 300 Metern aufräufeln würde.

Nerven wie Drahtseile

In Windeseile werden Balken und Bohlen besorgt, die man an der betreffenden Stelle in den Boden rammt, um Widerlager für einen riesigen Sandsackhaufen zu schaffen. Hubschrauber der Bundeswehr stehen bereit, um in Netzen Sandsäcke zum Deich zu transportieren, der mitten im Biosphärenreservat liegt und sehr schwer zugänglich ist.

Im Lödderitzer Gemeindebüro muss Bürgermeister Michael Kromer Nerven wie Drahtseile beweisen, weil immerfort das Telefon klingelt oder die Helfer persönlich kommen.

Christian Jung stehen Schreck und Übermüdung ins Gesicht geschrieben. "Wenn ich in den letzten Tagen nur wenig geschlafen hätte, wäre das ja in Ordnung - ich bin aber fast gar nicht dazu gekommen." Jung und eine Mitarbeiterin patrouillieren den kritischen Dammabschnitt immer wieder auf und ab. "Auch wenn der Pegel langsam fällt - die Lage entspannt sich erst, wenn die Elbe um eineinhalb Meter gefallen ist", erklärt Jung. Und er gesteht, so ein Abrutschen des Damms zum ersten Mal gesehen zu haben ...