Sommerserie Bei der Ernte zählt jede Minute
Reporter Ralf Franke versucht sich als Landwirt. Bei der Sommerserie der Volksstimme schlüpfen Reporter in fremde Berufe.
Lückstedt l In diesen Wochen rückt die Arbeit der Männer und (immer mehr) Frauen auf den Feldern besonders in den öffentlichen Fokus, weil Mähdrescher wegen ihrer Größe und den Staubfahnen, die sie oft hinter sich herziehen, kaum zu übersehen sind. Es ist die für Landwirte spannendste Zeit im Jahr. Jetzt entscheidet sich, ob sich die Mühen von Wochen und Monate ngelohnt haben. Auf den letzten Metern darf es keine Fehler geben, um Gerste, Raps, Weizen beziehungsweise Roggen oder als letztes Mais so schnell und trocken wie möglich unter Dach und Fach zu bringen.
Einer, der sich auf dem Mähdrescher bestens auskennt, ist André Pengel von der Agrargenossenschaft Lückstedt. Während der Dewitzer sonst einen 826er Fendt-Schlepper für Bodenbearbeitung, Aussaat oder Transporte lenkt, bedient er dieser Tage im dritten Jahr einen der drei Kolosse der Marke New Holland, die das Unternehmen mit etwa 2800 Hektar Ackerland (plus 600 Hektar Grünland) vorhält. Der 13-Liter-Dieselmotor schafft über 500 PS. Die braucht es, um das Getreide auf einer Breite von rund elf Metern in einem Arbeitsgang zu mähen, die Körner aus den Ähren zu dreschen, mit Sieben sowie Gebläse von den Halmen zu trennen und die wertvolle Last während der Fahrt bei einem Kollegen auf dem Hänger abzubunkern. Das Stroh bleibt für die Tierhaltung auf Schwad zum Pressen liegen oder wird gleich auf dem Acker breitgehäckselt. Je nach Fruchtart und Ertrag schafft eine Maschine drei bis vier Hektar pro Stunde.
Obwohl Pengels Mähdrescher acht Jahre auf dem Buckel hat, steht er doch exemplarisch für den technischen Fortschritt auf dem Acker nach der Wende, die der 25-Jährige nur aus Büchern oder Erzählungen kennt.
Der Mähdrescher E 512 aus dem VEB Fortschritt, der in der DDR seit Ende der 1960er Jahre vom Band lief, war zwar nicht so viel kleiner, verfügte aber nur über einen Bruchteil der Leistung. Vor allem wissen die Erntekapitäne heute die Bedienderfreundlichkeit der modernen Technik zu schätzen.
Vom Ertrag über Durchsatz und Ernteverluste bis zu Motorparametern oder kritischen Lagertemperaturen lässt sich nahezu alles vom Führerstand aus ablesen und meist auch nach Bedarf einstellen. Unter idealen Bedingungen sorgen GPS oder eine integrierte Kamera dafür, dass die volle Schnittbreite ausgenutzt wird und der Mähdrescher keine Haken auf dem Feld schlägt. Davon konnten frühere Generationen Mähdrescherfahrer nur träumen. Die mussten für die meisten Handgriffe von der Kanzel klettern, lange Hebel und Kurbeln statt Joysticks und Schalter bedienen. Von Klimaanlagen, Radios und Kühlboxen konnten sie seinerzeit nur träumen.
Geblieben ist die Arbeitszeit, die sich nicht nach einer Stechuhr, sondern nach dem Reife- und Trockengrad der Früchte richtet und keine Rücksicht auf Sonn- oder Feiertage nimmt.
Der Stress, Ertrag auf dem Acker liegen zu lassen, einen Stein oder Stau im Schneidwerk zu übersehen, sich einen „Fuchs“ (Verstopfung) einzufangen, eine gefährliche Hitzeentwicklung nicht zu bemerken oder Bedienungsschäden zu verursachen, ist geblieben beziehungsweise gestiegen. Eine neue Erntemaschine dieser Größenordnung kostet schnell mal 300.000 Euro.
Trotzdem ist Landwirt ein Traumberuf für Pengel. Etwas von Anfang bis Ende zu begleiten, das Ergebnis bei der Ernte zu sehen, Teil von etwas Großem zu sein, das spornt ihn an. Die Begeisterung gibt er gern weiter. Auf seinem Beifahrersitz hat schon so mancher Passagier gesessen, der nicht wusste, was hinter der Arbeit von Pengel und Kollegen steckt. Besonders stolz ist er, wenn auch ältere Zaungäste vom Mähdrescher steigen und anerkennend nicken.